24. August 2008

Laudatio zur Eröffnung der Roman-Polanski-Retrospektive Berlin 23.08.2008


Polanski – Genie auf der Flucht

Laudatio zur Eröffnung der Roman-Polanski-Retrospektive „Polański Komplex“ im Kino Babylon Berlin anlässlich des 75. Geburtstags des Regisseurs.

Gehalten am 23.08.2008 von Paul Werner

Auch ich darf Sie, meine Damen und Herren, zum Auftakt der Roman-Polanski-Retrospektive ganz herzlich begrüßen. Der Anlass ist ebenso unglaublich wie wahr: Das ewig jung gebliebene Enfant terrible des internationalen Kinos hat überraschend, völlig unbemerkt, ja quasi über Nacht ein geradezu biblisches Alter erreicht. Roman Polanski ist vor fünf Tagen 75 Jahre alt geworden.

Nicht nur wegen des ungewöhnlichen Regisseurs, auch sonst ist die Werkschau „Polański Komplex“ hier im Babylon eine Besonderheit: Sie ist komplett. Dem Veranstalter Timothy Grossman ist gemeinsam mit dem Polnischen Institut Berlin gelungen, sämtliche Regiearbeiten Polanskis versammeln zu können. Neben den Spielfilmen auch die Kurzfilme aus seiner Studentenzeit, mit denen er früh auf sich aufmerksam machen konnte. Polanskis Beiträge zu Gemeinschaftsfilmen mit anderen Regisseuren und auch sein einziger Dokumentarfilm werden hier zu sehen sein.

Ein bisschen erleichtert hat das Ganze vielleicht, dass Polanski eher wenige Filme gedreht hat. In der Branche als Perfektionist gefürchtet und als kompromisslos verschrien, konnte er in rund 50 Berufsjahren gerade mal 17 lange Kinofilme realisieren. Doch was seinem Œuvre vielleicht an Zahl mangelt, macht es mit einer beeindruckenden Vielfalt mehr als wett. Jeder Film ein Ereignis, jeder Film ein Unikat; jeder eine aufregende kinematografische Entdeckungsreise in unbekannte Gefilde. Für die Zuschauer ebenso wie für den Macher selbst.

Der Aufbruch, das Neue fasziniert Polanski, nicht ein Erfolgsrezept. Wie ein unerschütterlicher, wenngleich flüchtiger Liebhaber reizt ihn das Kino in all seinen Facetten. „Ich mache einfach das“, erläuterte Polanski einmal sein minimalistisches Credo, „worauf ich gerade Lust habe. Um ein einheitliches Image mache ich mir keine Gedanken.“

So finden sich neben klaustrophobischen Drei-Personen-Thrillern opulente Verfilmungen klassischer Literaturvorlagen. Nach einer beschwingten Komödie steht ihm vielleicht der Sinn nach einem nervenaufreibenden Horrorfilm. Auf einen klassischen Krimi folgt eine mäandernde Amour-fou-Geschichte.

Doch es gibt Gemeinsamkeiten: Die handwerkliche Genauigkeit. Die Präzision, mit der er auf die Gefühle der Zuschauern zielt. Die ironisch-abstrusen Kapriolen des Schicksals. Der einzigartige Polanski-Touch gespeist aus Angst, Entfremdung und Wahn. Und über allem ragt ein gemeinsames, ein weltumspannendes Thema: Der schier aussichtslose Überlebenskampf des Einzelnen in einer feindlichen, lebensbedrohlichen Gesellschaft.

Die Welt ist ein Dschungel, behauptet Polanski. Um darin zu überstehen, gibt es nur Angriff und Flucht.

Wen wundert es da, dass auch seine Vita wirkt, wie aus einem seiner Filme entnommen. Er, der Grenzgänger zwischen Ost und West, zwischen Europa und Amerika, ist überall zu Hause - und war zugleich immer ein wenig fremd und heimatlos. Und so manches Mal blieb ihm selbst nur die Flucht.

Am 18. August des Jahres 1933 kommt Polanski zur Welt. Nicht in Polen – in Paris. Der Vater ist ein polnischer Jude, seine Mutter hat einen russisch-katholisch-jüdischen Hintergrund. Polanski ist keine vier Jahre alt, als die Familie vor der in Frankreich aufkommenden Fremdenfeindlichkeit und dem Antisemitismus flüchtet – in die vermeintliche sichere Heimat, nach Polen zurück.

Eine fatale Entscheidung. Zwei Jahre später marschieren deutsche Soldaten in Polen ein und treiben die Juden zusammen. Einen Teil seiner Kindheit muss Polanski im Krakauer Ghetto zubringen, kann schließlich fliehen und bei Bauern unterschlüpfen. Immer wieder ist sein Leben in höchster Gefahr. Erst nach Kriegsende erfährt er vom Schicksal seiner Familie. Der Vater überlebt das KZ Mauthausen, die Mutter kommt in Auschwitz um.

Ein Zuhause fand Polanski im Kino. Eine Heimat wurde später die renommierte Filmhochschule in Łódź. Doch den vorherrschenden sozialistischen Realismus empfand Polanski mehr und mehr als Gefängnis. Seine Sehnsucht galt dem amerikanischen Kino, sein Traum hieß Hollywood.

Mit dem furiosen Das Messer im Wasser im Gepäck, seinem in Polen nicht unumstrittenen, scheinbar unpolitischen Abschlussfilm von der Filmhochschule, machte er sich auf den Weg nach Westen. Es waren nicht alleine die Aussichten, hier die Filme seiner Träume machen zu können. Es war auch der andere, der freiere Lebensstil, der ihn magisch anzog.

Später bezeichnete Polanski diese Phase, um die Mitte der 1960er, als die unbeschwerteste Zeit seines Lebens. Wahrscheinlich die einzige unbeschwerte überhaupt. Man erkannte rasch sein Ausnahmetalent, sein polnisches Erstlingswerk wurde mit einer Oscar-Nominierung geadelt, es folgten Regieangebote. In rascher Folge konnte Polanski drei Filme in England drehen: Ekel, Katelbach und Tanz der Vampire. Danach winkte schon Hollywood und Rosemaries Baby. Der Erfolg kam über ihn wie ein Rausch.

Polanski ging seinen eigenen Weg. So wie er sich in Polen den thematischen Vorgaben der Auseinandersetzung mit dem Zweitem Weltkrieg und der deutschen Besatzung verweigert hatte, so wurde er in Frankreich kein Anhänger der dominierenden Nouvelle Vague und später in den USA nicht Teil des New Hollywood. Er war und blieb ein sehr eigenwilliger Regisseur, oft auch sein eigener Drehbuchautor oder Coautor und immer wieder Darsteller in seinen Filmen – vom winzigen Gastauftritt bis zur Hauptrolle.

In diesen Jahren, als Filmemacher eher in Fachzeitschriften zu Hause waren als in den Klatschspalten, wurde Polanski zu einem der sichtbarsten Regisseure überhaupt. In Windeseile stieg der koboldhaft kleine Pole mit dem Riesenego zum Liebling der Boulevardpresse auf. Man sah Polanski beim Skilaufen in der Schweiz. Man sah ihn umringt von Schönheiten in Nachtklubs von Monte Carlo bis Paris. Anfang 1968 gingen die Fotos von der Märchenhochzeit mit Sharon Tate, der zauberhaften Hauptdarstellerin von Tanz der Vampire von London aus um die ganze Welt. Der Filmemacher als Superstar.

Über dem Glitter und dem Hype lauerten schon die Schatten. Zwei einschneidende, geradezu traumatische Ereignisse, beide auf amerikanischem Boden, machten den Berühmten und Bewunderten wieder zu einem Getriebenen. Polanski war wieder auf der Flucht.

August 1969, kurz vor seinem 36sten Geburtstag: Polanskis hochschwangere Frau Sharon Tate und ein paar Freunde werden in Los Angeles bestialisch ermordet. Die Täter sind Mitglieder einer satanischen Sekte. Sofort zieht die Sensationspresse eine verführerische Parallele. Ging es nicht auch kurz zuvor bei Rosemaries Baby, Polanskis triumphalem US-Debüt, um den Teufel und um eine Schwangerschaft? Polanski ist fassungslos. Die Opfer werden von der Presse zu Mitschuldigen gemacht. Voller Wut und Trauer flieht er nach Europa, zieht sich zurück.

Ein paar Jahre später wagte Polanski einen neuen Aufbruch nach Hollywood. Mit Chinatown drehte er den amerikanischsten seiner Filme – und setzt gegen alle Widerstände einen geradezu europäisch-existenzialistischen Schluss der Detektivgeschichte durch. Ein Glücksfall: Chinatown wurde zum stilbildenden Klassiker des Neo-Film-noir und läutete die Renaissance eines ganzen Genres ein. Doch erneut endete Polanskis Versuch, heimisch zu werden in Amerika, mit einer Flucht.

1977 wird Polanski in Los Angeles wegen Verführung einer Minderjährigen verhaftet. Anderthalb Monate verbringt er im Gefängnis, kommt wieder frei und setzt sich am Vorabend des Prozesses bei Nacht und Nebel nach Frankreich ab. Die französische Staatsbürgerschaft schützt ihn vor der Auslieferung.

Heute, dreißig Jahre später, hat ihm das Opfer von einst öffentlich verziehen, Doch die amerikanische Justiz bleibt unerbittlich. Amerikanischer Boden ist nach wie vor für Polanski tabu. Ihm droht die sofortige Verhaftung. So geriet die Stunde seines größten Triumphes zugleich zu einem Moment der Schmach: Für Der Pianist erhielt er 2003 den Regie-Oscar – konnte es aber nicht riskieren, ihn persönlich in Empfang zu nehmen.

Schon immer hatte sich Polanski mit Händen und Füßen gegen Interpretationen und Analysen seiner Werke gewehrt. „Wenn ich eine Botschaft hätte“, lautete ein geflügeltes Polanski-Wort jener frühen Jahre, „würde ich sie mit der Post schicken – aber nicht in einen Film packen.“ Nun, nach dem doppelten amerikanischen Trauma und der Hetzjagd der Boulevardpresse lagen die Nerven blank.

Wie sehr nach Jahrzehnten noch, konnte ich bei meiner eigenen Begegnung mit Polanski hautnah erfahren. Ein Kollege und ich hatten mit Polanski 1993 ein Interview für das Magazin Tempo verabredet. Der Anlass war die Deutschlandpremiere von Bitter Moon, eine Amour-fou-Geschichte um einen Mann in mittleren Jahren und seine deutliche jüngere Frau. Die zunehmende Tristesse ihres Liebeslebens versucht das Paar mit ausgefallenen Sexpraktiken zu bekämpfen.

Der Film war heftig umstritten, die Reaktionen in Frankreich und England gemischt. In der weiblichen Hauptrolle: Polanskis deutlich jüngere Ehefrau Emmanuelle Seigner.

Im Hamburger Atlantic-Hotel hatte sich ein ungeheurer Pulk Journalisten und Fernseh-Teams aufgebaut. Mitten darin Polanski und seine Ehefrau. Polanski wirkte angespannt, man sah ihm an, dass ihm das Ganze ungefähr soviel Spaß bereitete wie ein Besuch beim Zahnarzt.

Das anschließend in einer Hotelsuite stattfindende Interview wollte mein Kollege offenbar mit einem Paukenschlag eröffnen. Gegen jede Absprache knallte er Polanski ein paar wüste Klatschgeschichten um die Ohren, um dann nahtlos auf die beiden amerikanischen Reizthemen zu wechseln.

Selten habe ich bei einem Menschen einen derart schnellen Stimmungsumschwung erlebt wie bei Polanski: Von schlecht gelaunt auf totensauer in zwei Sekunden. Im Geiste sah ich uns beide Journalisten schon, die neugierigen Schnüffler, wie Jack Nicholson in Chinatown, für die nächsten Wochen mit einem Pflaster auf der Nase herumlaufen. Polanski ist zwar klein, aber durchtrainiert wie ein Kampfsportler.

Das Interview war nicht mehr zu retten. Polanski wurde immer einsilbiger, gab nur noch Standardantworten. Und es kam, wie es kommen musste: Unser Text wurde redaktionell zusammengestaucht, das noch mühsam rausgeleierte gemeinsame Foto mit Polanski verschwand mysteriöserweise aus der Kamera des Fotografen. Polanskis Erotical floppte gehörig, den Kollegen habe ich nie wiedergesehen – und die Zeitgeistpostille Tempo wurde bald darauf vom Zeitgeist überholt.

Zwar kann Polanski auch heute noch Interviews abrupt beenden oder – wie letztes Jahr auf dem Festival in Cannes – wütend aus einer gemeinsamen Pressekonferenz mit 30 Regiekollegen stapfen. Doch der Zorn der frühen Jahre scheint einer gewissen Altersweisheit Platz gemacht zu haben. Für Scharmützel mit der Presse ist Polanski mittlerweile die Zeit zu schade.

Der einst rastlose Wanderer ist angekommen, Roman der Schreckliche zum Familien-Róman gezähmt. Seit fast zwanzig Jahren mit Emmanuelle Seigner verheiratet und Vater zweier kleiner Kinder, zählen für ihn die Familie und die Arbeit. Er, der ursprünglich immer Schauspieler werden wollte, ist inzwischen ein gefragter Darsteller auch für andere Regisseure.

Und er steckt immer noch voller Pläne für eigene Filme. Anfang nächsten Jahres sollen die Dreharbeiten zu Ghost nach einem Bestseller des Briten Robert Harris beginnen. Pierce Brosnan und Ewan McGregor spielen die Hauptrollen in dieser bitterbösen Abrechnung mit der Ära Tony Blair.

Vor ein paar Jahren erst, mit fast schon Siebzig, hat sich Polanski dann doch noch an eine filmische Auseinandersetzung mit seiner Herkunft und den Schrecken seiner Kindheit gewagt. Sein eigenes Leben wollte er nie verfilmen. Dann aber stieß er auf die Erinnerungen des jüdischen polnischen Pianisten Władysław Szpilman über die Zeit von 1939 bis 1945. Szpilmans Leidensweg, sein Überlebenskampf unter deutscher Besatzung, Bombenkrieg und Ghetto darf man getrost auch als Schlüssel zu Polanskis Biografie verstehen. Der Pianist wurde Polanskis persönlichster Film und einer seiner größten Erfolge und weltweit mit Preisen und Ehrungen geradezu überhäuft.

Auch Polanskis bislang letztes Werk Oliver Twist bedeutete ihm natürlich mehr als nur eine besonders gefühlvolle, besonders komische und gelegentlich drastische Verfilmung des Charles-Dickens-Klassikers. Die schicksalhaften Abenteuer des Waisenjungen im England des frühen 19. Jahrhunderts erinnern zu deutlich an einen anderen kleinen Jungen - in Polen rund hundert Jahre später.

„Ich weiß noch genau, wie es sich anfühlt“, räumte Polanski mit seltener Großmütigkeit unlängst in einem Interview dazu ein, „sich ohne Schuhe blutige Füße zu laufen oder eine vertrocknete Brotrinde zu essen, die eigentlich für ein Tier bestimmt war. Vor allem aber, wie es ist, Tag für Tag seine Eltern zu vermissen.“

Zum Schluss bleibt mir noch, Polanski, aber auch uns weitere faszinierende Polanski-Filme zu wünschen - und Ihnen jetzt viel Vergnügen mit Chinatown. Und achten Sie in dem Film auf den gefährlichen kleinen Mann mit dem weißen Hut.


Dazu Interview mit Kulturradio rbb

Video über Polanski und Chinatown

29. Juni 2008

"Die letzte Verführung" in: Filmgenres. Film noir


Die letzte Verführung

The Last Seduction
USA 1994    f 110 min 

R: John Dahl
B: Steve Barancik
K: Jeffrey Jur
M: Joseph Vitarelli, Charlie Terrell
D: Linda Fiorentino (Bridget Gregory), Bill Pullman (Clay Gregory), Peter Berg (Mike Swale), J. T. Walsh (Frank Griffith)

Verführerisch ist sie, gerissen und ohne Skrupel. Bridget ist eine Frau, die bekommt, was sie will. Mit Zuckerbrot und Peitsche treibt sie ihre Truppe von Telefonverkäufern zu Höchstleistungen – während zeitgleich Ehemann Clay einen brisanten Drogendeal durchzieht. Nach ihrem Plan, versteht sich: einen Koffer pharmazeutisches Kokain gegen 700.000 Dollar in gebrauchten Scheinen. Als Clay, ein verkrachter Mediziner, mit der Beute nach Hause kommt, unterläuft ihm der Fehler seines Lebens. Er verpasst seiner Frau, die ihn milde kritisiert, eine Ohrfeige – und bereut sofort. „Du darfst mich auch schlagen“, bietet er demütig an. „Wohin du willst, und so fest du willst.“
Von diesem Schlag zurück – der härter und gemeiner ausfällt, als Clay oder jeder andere sich das vorstellen kann – erzählt der Film.


bitte weiterlesen in: "Filmgenres. Film noir". Hg. Norbert Grob. Stuttgart 2008: Reclam. S. 341-345


Buch bei Amazon

13. April 2005

Film noir und Neo-Noir (5. Aufl.)


VORBEMERKUNG

In der ersten Dekade des neuen Jahrtausends erweist sich der Neo-Noir als lebendiger und für das amerikanische Kino wichtiger denn je. Inzwischen ist er gut vierzig Jahre alt; damit hat er die Zeitspanne des Film noir, dessen Erbe und Nachfolge er in den 1960ern antrat, mehr als verdoppelt, und auch den klassischen Kanon von knapp zweihundert Filmen hat er längst übertroffen. Und noch immer kein Ende in Sicht. Für völlig unangreifbar sollte man den Neo-Noir, dessen verschlungene Entwicklung der zweite Teil dieses Buches nachzuzeichnen versucht, dennoch nicht halten. Gefahren liegen in der exzessiven Abnutzung seines Stils, der von allen Seiten kannibalisiert wird, in der Erosion seiner Grenzen zu anderen Genres und in der Inflation des Begriffs; ein bisschen bedroht ist er auch durch ein paar ungeduldige Zeitgenossen, die schon auf einen „Post-Neo-Noir" oder „Neo-Neo-Noir" lauern. Ganz so weit ist es allerdings noch nicht, und bekanntlich leben Totgesagte länger.
In den fünf Jahren seit der vorigen Ausgabe dieses Bandes hat sich die Bezeichnung „Neo-Noir" in den USA und, etwas zögerlicher, auch in Deutschland durchgesetzt. Andere terminologische Versuche gingen weniger glücklich aus; sie erwiesen sich als zu umständlich oder zu nichtssagend. Kritiker, Filmtheoretiker und – das ist entscheidend – die Zuschauer haben in diesem knappen Begriff offenbar ihre Seh- und Höreindrücke, ihr Gespür für das Neue und ihr Wissen um die Tradition als angemessen komprimiert empfunden. Er ist einigermaßen assoziativ und einprägsam – und zugleich unscharf genug, um auch Weiterentwicklungen integrieren zu können. Schließlich, wie sollte es anders sein, haben sich auch die Macher dieser Filme auf dieses Markenzeichen verständigt.
Das Verblüffende ist ohnehin nicht das noch zunehmende Interesse am Neo-Noir, sondern das nicht nachlassende am Film noir. Aus der Begeisterung für diese schwarzweißen Klassiker von vor mehr als einem halben Jahrhundert erwächst zudem eine klare Bewusstheit dafür, dass aktuelle Werke wie MEMENTO, THE MAN WHO WASN'T THERE, COLLATERAL und selbst die MATRIX-Trilogie irgendwas (eine ganze Menge sogar) damit zu tun haben; dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Filmen von heute und dem, was einst eine Schar von Migranten aus dem alten Europa in die Neue Welt schleppte. Auch aus diesem Grund wird nicht nur über den Neo-Noir, sondern ebenso über den Film noir noch immer viel publiziert. Nach wie vor ist er ein wunderbar obskures Objekt der Neugierde für allerlei akademischen oder cineastischen Diskurs. Umso auffälliger wirkt diese lebhafte Auseinandersetzung im Vergleich etwa zu der kargen Beschäftigung mit der Nouvelle Vague oder dem Jungen (später: Neuen) Deutschen Film, obwohl diese um Jahrzehnte jünger sind.
Der Zugriff auf die Films noirs selbst ist dabei heute einfacher als je zuvor. In immer neuen DVD-Editionen erscheinen die wichtigsten der klassischen Filme, zum Teil in sorgfältig rekonstruierten Fassungen. Beispielsweise Edgar Ulmers DETOUR von 1945, dessen 35-mm-Originalnegativ aufgespürt und überspielt wurde und der seit seiner Uraufführung wohl nicht mehr so frisch zu sehen und zu hören war. Alleine von der Menge des Angebots her ist ein Eintauchen in den Film noir heute leichter als selbst zu den Zeiten, da die Filme in den USA ihre Kinopremieren hatten oder, mit Verzögerung, nach Frankreich und in andere europäische Länder expediert wurden.
Natürlich kann man die Neo-Noirs des 21. Jahrhunderts auch ohne eine Ahnung von Film noir genießen oder „verstehen". Wenn Brian De Palma seinen FEMME FATALE mit einer Szene aus einem offensichtlich älteren Schwarzweißfilm beginnt, in der eine Frau auf ihren Liebhaber schießt, oder wenn David Lynch in MULHOLLAND DRIVE eine Frau, die ihren Namen nicht mehr weiß, sich den einer Schauspielerin auf einem Filmplakat ausborgen lässt – so muss man nicht wissen, wieso dieser Ausschnitt, wieso dieses Plakat und dieser Name. Aber wenn man's weiß, wenn man die Darstellerinnen und den Darsteller kennt und den Film zu dieser Szene und den zu diesem Plakat und überhaupt all die anderen dieses Stils und aus dieser Zeit dazu: dann wird, mit ziemlicher Sicherheit, das Vergnügen beim Anschauen des Lynch oder des De Palma größer sein. Und ob einen die „verdrehte" Erzählweise von MEMENTO nun begeistert, langweilt oder lediglich verwirrt: es kann nicht schaden, den Vergleich mit den Rückblenden und Off-Erzählungen des Film noir ziehen zu können.
Solange also Filmemacher von heute sich am Film noir abarbeiten, sich bewusst oder unvermeidbar in seine Tradition stellen, und solange Zuschauer Freude daran haben, die Spuren des Alten im Neuen zu entdecken, erscheint es auch sinnvoll. Film noir und Neo-Noir in einem Buch zu vereinen und eine Brücke zwischen damals und heute zu schlagen. Und gelegentlich noch einen Film des Jahres 2005 als möglichen Reflex auf einen anderen von 1950 zu begreifen.

Gewidmet ist das Buch dem Andenken an den wunderbaren (Kriminal)Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur Ulf Miehe, der, im Sommer 1989, viel zu früh starb. Mit Dank für seinen behutsamen, kritischen Rat.


Paul Werner
im April 2005

Weiterführende Links und Infos zu Film noir, Neo-Noir und zu diesem Buch auf: neo-noir.de

29. August 1995

"The Big Sleep (Al borde del abismo)" in: Cien Años de Cine


HÉROES FRACASADOS EN EL CINE NEGRO: THE BIG SLEEP [AL BORDE DEL ABISMO] (1946)

PAUL WERNER


Entre las dos y las tres de la mañana. En el muelle del Lido el infierno se ha desatado. Las luces se reflejan en el asfalto aún mojado por la lluvia. Un par de curiosos despistados, la policía desarrolla febril actividad. Una grúa, resoplando fuertemente, extrae un abollado Packard del agua. Desde un bote unos hombres miran la acción. En una camilla yace un cadáver semicubierto, que acaba de ser sacado del agua. Un hombre de aspecto duro y pequeño, con sombrero e impermeable, camina por el lugar, junto a un impleado policial: Philip Marlowe, detective privado. La identitad del muerto ya ésta comprobada: se trata de Owen Taylor, el chofer de los Sternwood. También se conoce la causa de su muerte: el hombre simplemente se ha desnucado. Puede ser un accidente el acelerador de mano está medio salido.
Cuando el director Howard Hawks filmó esta escena de The big sleep, hacia fines de 1940, en Burbank, territorio de los hermanos Warner, surgió la pregunta acerca del culpable de la muerte del hombre. Hawks dio un nombre; Humphrey Bogart, que representaba el detective privado, apostó por otro. Durante algún tiempo se discutió la posibilidad de que Owen Taylor se hubiera suicidado. Sólo William Faulkner, coautor del guión, se negó a participar en tales especulaciones.
Para acabar con las conjeturas, Hawks decidió mandar un telegrama a Raymond Chandler (sobre cuyo costo de 70 centavos se burlaría más tarde el jefe del estudio, Jack L. Warner). Como autor de la novela que iba a ser filmada, él debía tener la respuesta. Chandler hojeó un poco en su libro y luego dijo: "Maldición, yo mismo no lo sé."


bitte weiterlesen in Cien años de cine. Vol. 3: 1945-1960. (Comp. Werner Faulstich y Helmut Korte - trad. de Celia Bulit). México/Madrid 1995: siglo ventiuno editores. pp 65-89

4. September 1994

Alain Delon


EINSAMER WOLF
Nach der Gérard-Depardieu-Reihe zeigt das ZDF ab Samstag sechs Filme eines anderen französischen Superstars - Alain Delon. Den Auftakt macht »Flic Story«

Niemand tötete so elegant, und beim Sterben war er immer der Schönste. Geheimnisvoll der Blick seiner blauen Augen, aber auch kalt. Und oft wirkte sein gutgeschnittenes Gesicht eher wie eine Fassade denn als Spiegel seiner Seele. Er selbst fand Anspielungen auf sein Aussehen manchmal »nur zum Kotzen«.
Vielleicht hätte Alain Delon das Zeug zu einem Schauspieler gehabt, so aber wurde er ein Star. Die Wandlungsfähigkeit, die sich in frühen Rollen bei Luchino Visconti und Michelangelo Antonioni und später bei Joseph Losey noch erkennen ließ, verschwand bald hinter einer rigorosen Selbstinszenierung und Selbststilisierung. Zu sehr gefiel sich Delon als Narziß mit Killergehabe, als melancholischer Einzelgänger, als einsamer Wolf. Er schuf aus sich einen Kinomythos - und baute sich zugleich ein Gefängnis: Die gelegentlichen Ausbruchsversuche aus dem Gangster-Klischee wurden kaum honoriert.
Längst haben Delon, 58, dem das ZDF nun eine sechsteilige Reihe widmet, variationsreiche Vollblutschauspieler wie Gérard Depardieu den Rang abgelaufen. Als Duftwasserproduzent, Rennstallbesitzer und Kunstsammler ist Delon heute gefragter als an der Kinokasse.
»Sei schön und halt den Mund« hieß 1958 sein zweiter Film, bei dem auch Erzrivale Jean-Paul Belmondo bereits zu entdecken war. Den Filmtitel schien sich der junge Delon, der zuvor aus der stiefväterlichen Metzgerei zur Marine und in den Indochina-Krieg geflüchtet war, fortan zu eigen zu machen. Nahezu stumm war er vor allem in dem Film, mit dem er 1967 zu Recht berühmt wurde, »Der eiskalte Engel«. Regisseur Jean-Pierre Melville, der Chefstylist des französischen Kriminalfilms, trieb die Ikonographie seines Idealdarstellers zur Vollendung: minimale Mimik, rituell-sparsame Gesten, ein Blick von unergründlicher Traurigkeit. Einsam wie ein Tiger durchstreift Delon als verratener Berufskiller das nächtliche Paris.
In derartigen Standardrollen präsentiert die ZDF-Reihe nun an fünf aufeinanderfolgenden späten Samstagabenden und dazu noch einmal im »Montagskino« den französischen Kult-Mimen vornehmlich: entweder auf der Flucht (vor Gangstern, vor Polizisten) oder auf der Jagd (nach Verbrechern). Ob als Ganove oder Polizist - die geradezu existentialistische Verzweiflung des Einzelgängers ist jedesmal die gleiche, die Vergeblichkeit allen Tuns wird in jeder Bewegung bewußt.
Wieder war es Melville, der Delon 1972 in »Der Chef« (zu sehen am 22.1.) zum ersten Mal einen Bullen spielen ließ, zerrissen zwischen Pflichtgefühl und seiner Freundschaft zu einem Ganoven (Richard Crenna), auf den sich alle Spuren konzentrieren.
Gerade dieses Motiv der Freundschaft machte die Rolle für Delon attraktiv: »Mehr als an die Liebe glaube ich an die Freundschaft«, erklärte er einmal. Und: »In der Freundschaft gibt es keine Enttäuschungen, da gibt es nur den Verrat.«
Drei Jahre später wagte Delon einen weiteren Ausflug ins Bullenfach: »Flic Story«, mit dem das ZDF seine Reihe am Samstag um 1.00 Uhr beginnt. Die stimmungsvolle, im Paris der späten Vierziger angesiedelte Suche nach einem Psycho-Killer fiel dennoch vergleichsweise konventionell aus.
Vom selben Regisseur - Jacques Deray, mit dem Delon häufig arbeitete - stammt auch »Killer stellen sich nicht vor« aus dem Jahre 1980 (24.1.). Delon gerät hier als Berufsspieler auf die Abschußliste einer Verbrecherbande, ein Schicksal, das ihn bereits 1963 in dem Film »Wie Raubkatzen« (15.1.) ereilte, nachdem er die Frau eines Gangsterbosses verführt hatte. Seine Flucht nach Monte Carlo bringt ihn vom Regen in die Traufe.
Nach dem schwachen »Wie ein Bumerang« (29.1.) - ein Unternehmer (Delon) wird von seiner kriminellen Vergangenheit eingeholt - bringt zum Abschluß der Reihe ein Klassiker am 5. Februar beinahe sämtliche Motive noch einmal unter einen Hut: den großen Coup, den Ehrenkodex der Mafia, den Delon durch eine leichtsinnige Liebschaft verletzt, die Freundschaft der Gangster, den Verrat. Vor allem aber führte »Der Clan der Sizilianer«, 1969 von Henri Verneuil inszeniert, gleich drei Ikonen des französischen Gangsterfilms zusammen: neben Delon noch Lino Ventura und einen hinreißend kauzigen Jean Gabin.
PAUL WERNER

Stern 23, 1994

13. April 1990

Tagebuch einer Freundschaft: Wim Wenders - Yohji Yamamoto


EIN DEUTSCHER REGISSEUR, SEIN JAPANISCHER FREUND UND PARIS, TOKIO 

Der neue Film von Wim Wenders ist mehr als ein Portrait des Modemachers Yohji Yamamoto: ein vielschichtiger kinematographischer Essay über die Arbeit von Künstlern, über das Leben in Städten, über Kino und Video

Von Paul Werner

in Zeit magazin Nr. 16 13. April 1990

17. Januar 1990

Jörg Fauser Edition


Lebenswerk eines Lumpensammlers
 
In memoriam JÖRG FAUSER: Eine achtbändige Edition faßt Prosa und Poesie des verstorbenen Literatur-Desperados zusammen

Seine Helden waren Überlebenskünstler und Glücksritter aller Art. Immer wieder kreisten seine Prosa und seine Gedichte um Säufer, Fixer und kleine Dealer, um Nutten, Penner, Schwule und Stricher, kurz: um die Gestrandeten dieser Gesellschaft. Jörg Fauser, Krimiautor, Poet und Journalist, sah sich auch selbst gern als Underdog. Im deutschen Literaturbetrieb war er ein Außenseiter. Und als er 1987 mit 43 Jahren starb, lag es auf der Hand, daß die Nachrufer eine Parallele zwischen seinen Geschichten und den Umständen seines Todes zogen: Nach einer ausgedehnten Geburtstagsfeier war der Schriftsteller im Morgengrauen zu Fuß über die Autobahn gestolpert - und von einem Lastwagen überrollt worden. So hätte auch einer seiner Romane enden - oder beginnen - können. Seine literarische Hinterlassenschaft ist beachtlich: vier Romane, ein Band Gedichte, zahlreiche Erzählungen und eine Fülle journalistischer Arbeiten, die nun in einer schönen achtbändigen Edition versammelt sind.
Beim Lesen der mehr als zweieinhalbtausend Seiten wird deutlich, wie schmal der Grat ist, auf dem sich Fauser zwischen Klischee und genauer Wirklichkeitsbeschreibung bewegt. Wenn Fauser gut ist, dann sehr gut. Wenn er schlecht ist, dann gleich miserabel. Der Autor schrieb die wunderbarste Schnoddersprache, die man in einem deutschen Krimi lesen kann. Und seine lakonischen und treffenden Charakterisierungen stehen denen seiner Vorbilder Chandler, Hammett und Spillane in nichts nach („ein Mann mit Seehundsbart und den Augen eines Bassets, der im Tierheim groß geworden ist“). So leicht er auch oft dahinerzählt, manchmal bleibt Fauser in einem Sumpf aus Platitüden stecken. Zum Beispiel dann, wenn er zum hundertsten Male den Glorienschein des heiligen Trinkers aufpoliert oder die ewige Nutte mit Herz beschwört. Doch immer wenn er seine persönlichen Erfahrungen wiedergibt, dann sind seine Arbeiten - ob Fiktion oder Reportage - mitreißend und spannend.
Dies gilt unbedingt für Fausers Romandebüt „Der Schneemann“, mit dem er 1981 bekannt wurde. Der Held, ein abgetakelter Geschäftemacher, gerät auf Malta an ein paar Pfund Kokain und versucht, die zu verscherbeln. Von München über Frankfurt und Köln bis nach Amsterdam führt ihn die Irrfahrt, und stets besticht Fauser durch die genaue Kenntnis der Orte, Personen und Milieus.
Was Fauser damals an Schreibund Lebenserfahrung bereits hinter sich hat, läßt sich sehr schön in seinem erstmals 1984 erschienenen autobiographischen Roman „Rohstoff“ nachlesen. Es ist die unsentimentale Beschreibung seiner Selbstfindungsversuche in den sechziger und siebziger Jahren - und nebenbei ein demaskierendes Porträt der Berliner und Frankfurter Studentenbewegung. Im Vergleich zu seiner Beobachtungsgabe wirkt Fausers Erfindungsvermögen unterentwickelt. Der schlecht konstruierte Roman „Das Schlangenmaul“ (1985) über einen Illustriertenschreiber, der in Berlin Privatdetektiv spielt, ist blasse Kolportage. Das Sujet wurde auch nicht besser, als Fauser es nach München transportierte und für den Fortsetzungsroman „Kant“ noch einmal aufnahm.
Da sind seine ruppigen Gedichte aus den siebziger Jahren allemal besser („Der Poet ist ein Lumpensammler, / er kommt mit den Abfällen aus / wie die Ratte und der / Schakal“), auch wenn sie in ihrer harten Männerpose oft zu deutlich die Lektüre von Bukowski verraten. Vor allem zu bewundern sind Fausers Reportagen und literarische Porträts. Auf sie trifft zu, was der Autor seinem Doppelgänger in „Rohstoff“ in den Mund legte: „Da hast du einen Vorsprung, wenn du bei dem bleibst, was du gesehen hast.“ (Jörg Fauser Edition, Rogner & Bernhard bei Zweitausendundeins, 8 Bände plus Begleitheft, 100 Mark)

PAUL WERNER

in Viva Heft 3, 1990

19. Juli 1989

Jamie Lee Curtis


WENDE MIT WANDA

Erst Tochter von Tony und Königin des Horror-Films.
Dann Femme fatale und endlich Lorbeeren. 

JAMIE LEE CURTIS spielt alles - jetzt eine Polizistin

VON PAUL WERNER

Man mag sie sofort. Wahrscheinlich ist es diese Mischung aus Wildkatze und höherer Tochter, die sie so ungeheuer anziehend macht. Sie ist offen, schlagfertig, manchmal sogar tiefgründig. Was sie sagt, glaubt man ihr meist. Sie spricht mit dunkler Stimme, und sie geizt nicht mit den Worten „shit“ und „fuck“. Sie hat ein hübsches Gesicht, ohne wirklich schön zu sein. Ihr vielgerühmter Körper zeugt von Sport, Bodyshaping und vorsichtigem Umgang mit Nahrung. Man kann sich gut vorstellen, wie sie mit ihrem weißen Volvo zum Pazifikstrand fährt, um dort ein paar Meilen zu joggen, und dabei nicht einmal ins Schwitzen gerät. Falls es eine Personifikation des Californian Girl überhaupt gibt, dann ist es Jamie Lee Curtis.

Auch wenn sie, ihrem Aerobic-Film „Perfect“ zum Trotz, die Welt bislang mit einer Fitneßfibel verschont hat: Jamie Lee Curtis erinnert an Jane Fonda, vor zwanzig Jahren. Dieses Schwanken zwischen einer Ihr-könnt-mich-mal-Attitüde und der Sehnsucht nach Anerkennung - und dabei immer auf dem Sprung zu beweisen, daß die Kinder der Reichen und Berühmten es schwerer haben als andere. Bloß: Eine jugendliche Rebellin wie die Fonda hat Jamie Lee Curtis nie gespielt. „Ich bin ein Kind der Siebziger“, erklärt sie. „Haben Sie eine Ahnung, wie langweilig die Siebziger waren? Da gab's keinen Elvis, keine Beatles, kein Woodstock. Nichts, woran man sich halten konnte.“

Heute ist die 31jährige ein Filmstar auf der Suche nach Normalität. Ihr weißes, eher bescheidenes Haus im flacheren Teil von Beverly Hills sieht aus wie der wahr gewordene Traum vom gehobenen Familienheim: Doppelgarage, ordentlicher Rasen vor dem Eingang und eine geräumige Küche im Landhausstil. Jamie Lee Curtis wohnt darin mit Ehemann Christopher, zehn Jahre älter und als Schauspieler weit weniger bekannt als sie, und dem blonden Töchterchen Annie, das, knapp dreijährig, ihre Gedanken derzeit mehr beschäftigt als ihre Karriere.

Dabei kann sie auch anders. Da ist Jamie, die miniberockte skrupellose Juwelenräuberin aus „Ein Fisch namens Wanda“, die liebestolle Femme fatale, die alle Männer verführt und jedem Mann zu Füßen liegt, sofern er Fremdsprachenkenntnisse besitzt. Erst in dieser britischen schwarzen Komödie durfte Jamie Lee Curtis den Amerikanern zeigen, was sie alles hat. Eben mehr als Beine, Po und Busen - daß sie komisch sein kann und schlagfertig und daß sie schauspielerisches Talent besitzt.

Doch Jamie bleibt skeptisch, mißtraut der plötzlichen Anerkennung durch Publikum und Kritik. Mag sein, daß einen als Kind zweier Filmstars, aufgewachsen in Beverly Hills und mit dem Studiochef der Universal als Patenonkel, lange die Frage bewegt, ob man's auch alleine geschafft hätte. Und wahrscheinlich ist es wirklich nicht lustig, stets als „die Tochter von Tony Curtis und Janet Leigh“ vorgestellt zu werden oder dreispaltige Fotos vom Familienausflug in der „New York Times“ zu entdecken. „Als Kind versuchst du, eine Identität und ein Selbstwertgefühl zu entwickeln, und dieses ganze Hollywood-Zeugs verunsichert dich dabei nur!“ Wirklich schlimm wurde es, als das kalifornische Beach Girl 1975 in ein Internat an der Ostküste kam. „Damals wollte ich einfach nur dazugehören und nicht auffallen. Wenn die anderen Mädchen einen Pferdeschwanz trugen, kam ich am nächsten Tag auch mit einem. Die Musik, die sie hörten, wurde sofort meine. Ein Alptraum. Ich war nie wieder so deprimiert.“ Doch spätestens mit dem Motto, das sie bei ihrem Abgang von der Schule ins Jahrbuch drucken ließ, offenbarte sich eine andere Jamie: „Verrücktheit ist eine Tugend, die nur wenige erreichen“ stand dort zwischen hochgestochenen Sentenzen und gelehrigen Zitaten ihrer Mitschülerinnen, und: „Meine Brüste sind zwar nicht groß, aber sie gehören mir.“

Ihren inneren Widersprüchen und den Spätfolgen ihrer chaotischen Kindheit begegnet Jamie Lee Curtis mit ausgeprägtem Ordnungssinn. Das Haus ist aufgeräumt, das Leben wohlorganisiert, Verabredungen werden lange im voraus geplant. Muß sie verreisen, stehen die Koffer schon Tage vor der Abreise perfekt gepackt neben der Wohnungstür. Irgendwie scheint ihr ein wenig der kalifornische Optimismus zu fehlen. Sie traut ihrer selbstentworfenen Idylle nicht. „Es stimmt, daß ich die Dinge oft negativ sehe. Aber ich bin es auch, die die anderen immer wieder aufmuntert.“

Weil alles so wunderbar ordentlich bei ihr ist, läßt sich auch ihre Filmkarriere mühelos in drei Entwicklungsphasen unterteilen: Jamie Lee Curtis - der Schreihals, der Körper und die Schauspielerin. Phase eins beginnt 1978. Ohne eine Stunde Schauspielunterricht, aber mit viel Erster-Hand-Erfahrung aus dem Showbusiness, wird Jamie von einem dreißigjährigen Nachwuchsfilmer für einen billigen Horror-Streifen geholt. Für die Hauptrolle. Ergebnis: „Halloween“ entwickelt sich zum Megahit, läutet die Renaissance des Horror-Genres ein und macht den Regisseur John Carpenter reich und berühmt. Jamie Lee Curtis, deren fünfminütige Schreiarie in dem Film jeden Tarzan hätte neidisch werden lassen, erhält achttausend Dollar und den zweifelhaften Titel einer „Scream Queen“.

Nachhaltiger Effekt war, daß die 20jährige „Kreisch-Königin“ von nun an als Horror-Opfer Nummer eins abgestempelt schien. „Die Nacht des Schlächters“ oder „Monster im Nachtexpreß“ hießen die nächsten Werke. Was soll man auch erwarten, spottete eine Zeitschrift, wenn der Vater „Der Frauenmörder von Boston“ und die Mutter das spektakuläre Duschbad-Opfer in Hitchcocks „Psycho“ war? Mit ihrer Mutter Janet Leigh - die ihr inzwischen eine Freundin, kaum jedoch Beraterin in Karrierefragen ist - stand Jamie in „Nebel des Grauens“ dann sogar gemeinsam vor der Kamera.

Komplizierter gestaltete sich das Verhältnis zu ihrem Vater. Als Tony Curtis und Janet Leigh sich 1962 nach mehr als zehnjähriger Ehe scheiden ließen, war Jamie nicht einmal vier Jahre alt. Sie und ihre ältere Schwester Kelly kamen zur Mutter. Was der Vater machte, erfuhr Jamie Lee Curtis hauptsächlich aus den Klatschspalten der Zeitungen, zum Beispiel, daß er die 18jährige Christine Kaufmann heiratete. „Mein Vater war ein Fremder, dann sogar ein Feind“ - die liebevolle Bezeichnung „Daddy“ galt stets ihrem Stiefvater, einem Börsenmakler.

Erst Anfang der Achtziger fanden Jamie und Tony wieder zusammen, durch Alkohol und Kokain. „Damals habe ich mir mit meinem Vater des öfteren Drogen geteilt“, bekennt Jamie Lee Curtis freimütig. Der Unterschied war, daß Jamie, die Vernünftige, schnell davon wieder loskam und ihr unvernünftiger Vater bis heute nicht.

Die Filmbosse, die Jamie Lee Curtis damals immer neue Horror-Rollen antrugen, hatten nicht mit ihrem starken Willen gerechnet. Und nicht mit ihrer Angst, festgelegt zu werden. Lieber stellte sie in zwei reichlich spekulativen Fernsehfilmen das „Playboy“-Model Dorothy Stratten und eine Freizeitnutte dar. „Urplötzlich war ich ein Sex-Girl. Die Leute hatten mit einem Mal entdeckt, daß ich Brüste hatte.“ Ein kaugummikauendes Flittchen, schon mit Humor, folgte in John Landis' „Die Glücksritter“; dann, mit „Perfect“, war auch dieser Teil ihrer Karriere passé.

Genau wie ihre längere Beziehung zu dem britischen Pop-Sänger Adam Ant, die sie in die Klatschspalten gebracht hatte. Statt dessen begegnete sie Christopher Guest, mit dem sie inzwischen fast fünf Jahre verheiratet ist. Dabei ging es Jamie Lee Curtis nicht anders als gewöhnlichen Sterblichen: Sie entdeckte ihren Traummann in einem Magazin und verliebte sich in ihn, als er sie im Kino von der Leinwand herunter anlächelte. Im Unterschied zum normalen Fan jedoch war es für Jamie kein so großes Problem, an ihren Star heranzukommen. „In einem Anfall von Wagemut rief ich seinen Agenten an, sagte, daß ich Chris gerne kennenlernen würde, und hinterließ meine Telefonnummer.“ Es dauerte drei Monate, bis sie sich mit ihm traf. Die Rechnung vom ersten gemeinsamen Restaurantbesuch hängt heute in ihrer Küche an einem Ehrenplatz.

Für Jamie, zu der Zeit gerade mal wieder von irgendeinem amerikanischen Modeblatt zur perfekten Frau gekürt, war es ein harter Schlag, zu erfahren, daß ihr perfekter Körper keine Kinder bekommen kann. Sie und ihr Mann entschlossen sich zu einer offenen Adoption, bei der die Adoptiveltern und die Mutter des Kindes sich kennenlernen - in diesem Falle bereits vor Annies Geburt. „Um aus dem Schatten meiner Eltern herauszukommen“, sagte Jamie Lee Curtis einmal, „blieb mir nichts anderes übrig, als selbst ins Rampenlicht zu treten.“ Nun, da sie gezeigt hat, was in ihr steckt, und sie längst nicht mehr „die Tochter von...“ ist, scheint ihr das gar nicht mehr so viel zu bedeuten. Ein neuer Film, „Blue Steel“, in dem sie eine herbe New Yorker Polizistin spielt, ist abgedreht und kommt im Frühjahr 1990 bei uns in die Kinos. Doch das Familienleben spielt bei Jamie Lee Curtis derzeit die erste Rolle. Sie ist fest entschlossen, ihrer Tochter das Stück Normalität zu geben, das sie selbst in ihrer Kindheit vermißte. „Wenn ich zum Beispiel in Frankreich drehe, dann muß Annie ihr Leben ändern, muß mein Mann sein Leben ändern und mein Kindermädchen auch. Ich glaube nicht, daß das richtig ist.“

So hat sie sich nach fünfzehn Spielfilmrollen wieder für Fernseharbeit entschieden - für eine Komödienserie, in der sie eine Nachwuchsjournalistin bei einem Chicagoer Magazin darstellt. „Bis zu meinem Studio sind es nur anderthalb Blocks. Und an einer Halbstunden-Serie mitzuwirken ist das Bequemste, was man sich als Schauspieler aussuchen kann.“ Eine leidenschaftliche Liebe zu ihrem Beruf offenbart sich da nicht gerade. Jamie Lee Curtis weiß das. „Als Kind von Filmstars entwickelt man diese romantische Vorstellung von der Schauspielerei gar nicht erst“, stellt sie fest. Und betont, daß sie ihren Beruf nie mit Leidenschaft betrieben habe: „Aber mag sein, daß das noch kommt.“

in Viva Heft 7, 1989

17. März 1989

Lotte Lenya


FRAUEN, DIE GESCHICHTE MACHTEN

VON PAUL WERNER

Das Premierenpublikum saß wie versteinert, der junge Theaterdirektor sah seine Bühnenträume entschwinden, und die Hauptdarstellerin hatte bereits einen Vertrag für ein anderes Stück in der Tasche. Und nun tobte in der ersten Pause auch noch der sonst so sanfte Komponist durch den Garderobengang und stieß wüste Drohungen aus: „Dieser Saustall! Meine Frau spielt nicht weiter! Ich erlaube es nicht!“ Gemessen an den Problemen, die das Ensemble gerade halbwegs überstanden hatte, schien der Anlaß für den Wutausbruch banal: Der Drucker hatte auf dem Theaterzettel den Namen der Komponistengattin verschlampt, die eine der vier Huren darstellte.

Natürlich spielte sie dann doch weiter, sang im melancholischen Tango-Rhythmus von „dem Bordell, wo unser Haushalt war“. Und als am Ende der Vorhang über das „Stück mit Musik“ fiel, rasten die Zuschauer längst vor Begeisterung und schrien nach Zugaben. Was niemand für möglich gehalten hatte: Kurt Weills und Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“, die da am letzten Augustabend des Jahres 1928 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm über die Bühne ging, kam an. Das starke Stück über Bettler, Huren und Ganoven mit seinen provokanten Texten und der schmissigen Musik wurde zum größten Bühnenerfolg der Weimarer Republik. Mehr als fünfzig Theater griffen das Werk im ersten Jahr nach der Uraufführung auf und spielten es über viertausendmal. „Wer war die?“ hatte sich der Kritikerpapst Alfred Kerr während der Vorstellung über die anonyme Darstellerin gewundert. Doch überschwenglicher hätte sein Lob, das am nächsten Morgen im „Berliner Tageblatt“ zu lesen stand, gar nicht ausfallen können: „Die war sehr, aber sehr gut. Ja, die war im Artikulieren besonders gut.“ Schnell lernte Kerr, wie fast jeder in Berlin, daß die Namenlose Lotte Lenja hieß.

Wer war die eigentlich? fragte man sich noch ein halbes Jahrhundert später, als die Lenya (wie sie sich nun schrieb) 1981 in New York im Alter von 83 Jahren starb. Nun: Die kleine Frau mit dem faszinierend unschönen Gesicht war eine Kultfigur aus einer längst verwehten Epoche. Eine Überlebenskünstlerin, die im krisengepackten Berlin der Weimarer Republik ebenso zu Hause war wie am Broadway in den Sechzigern. Eine Sängerin, die mit ihren Weill-Liedern eine ganze Ära wieder aufleben lassen konnte. Eine Schauspielerin, die Brechts „Mutter Courage“ auf der Bühne verkörperte und im Actionkino James Bonds russische Todfeindin. Und schon zu Lebzeiten galt die Lenya als Legende, steckte voller Geschichten aus alten Zeiten, immer sehr anekdotisch und nur selten politisch reflektierend. Eben eine von denen, die mittendrin, aber nie darüber gestanden hatten. Sie konnte hinreißend über ihre Begegnung mit dem zornigen jungen Kommunisten Brecht berichten („er war sehr dünn, wie ein Hering“), über den Maler George Grosz, der betrunken auf dem Kamm blies, und über die „viel zu schönen“ Beine der Dietrich. Sie erinnerte sich genau, wie es damals war, als sie im berühmten Theaterrestaurant „Schlichter“ den Kulturklatsch durchhechelten. In den ekstatisch-wilden Zwanzigern, als man die Inflation von 1923 vergessen hatte und die heraufdämmernde Weltwirtschaftskrise von 1929 nicht wahrhaben wollte. Als man dachte, daß es unablässig aufwärts gehe.

Aufwärts ging es nach dem „Dreigroschen“-Erfolg in der Tat für das Ehepaar Weill-Lenya. Wie ein Kind freute sich Kurt über sein erstes Auto, und „Lenya“ - die nicht mal enge Freunde Lotte genannt hätten - war mit dreißig über Nacht eine gefragte Darstellerin. „Die wird bald in der szenischen Front sein“, prophezeite Kerr, und Lotte Lenya spielt sich 1929 einmal quer durchs gängige Repertoire. Zusammen mit Peter Lorre klettert sie bei der Uraufführung von Marieluise Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“ (Regie: Bert Brecht) zum Liebesakt in einen Sarg - und provoziert damit selbst im libertinen Berlin einen Skandal. Der „bürgerliche“ Max Reinhardt, für den die antibourgeoise Brecht-Schauspielerin selbstverständlich nicht spielt, schickt seine Schüler geschlossen in Lenyas Vorstellungen, damit sie ihre „natürliche Kunst“ studieren.

Doch Theater spielen konnten andere auch. Einzigartig war Lenya als Interpretin der Lieder ihres Mannes, zumal, wenn Brecht dazu die Texte lieferte. Das Dreigestirn Weill-Brecht-Lenya hatte sich schon im Juli 1927 beim Baden-Badener Kammermusikfest mit dem Songspiel „Mahagonny“ bestens eingeführt. Damals brachte Lenya zum erstenmal den „Alabama-Song“, den Brecht in bescheidenem Englisch getextet hatte („Oh, show us the way to the next whisky-bar“) und der ihr Leben lang eine ihrer Glanznummern blieb. Auch ohne daß Lenya, wie Brecht wollte, nackt auftrat, war das Werk mit dem Boxring auf der Bühne eine Sensation. Die eine Hälfte des Publikums pfiff wütend auf ihren Hausschlüsseln, die andere applaudierte frenetisch. Zur perfekten Einheit kamen Darstellerin und Rolle in der Ballade der „Seeräuber-Jenny“,  die  in  der „Dreigroschenoper“ eigentlich einer anderen Figur, der Polly gehört. Mit der ihr eigenen Zähigkeit hatte sich die Lenya dieses „Lied eines kleinen Abwaschmädchens“, das von dem „Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen“ träumt, seit der Verfilmung der Oper durch G. W. Pabst für alle Zeiten unter den Nagel gerissen. Ihr lakonisch-mitleidloses „Hoppla“, wenn die Köpfe ihrer Unterdrücker rollen, war lautmalerischer Akzent und cooler Zynismus in einem. Den Zuhörern jagte es eisige Schauer über den Rücken.

Der Theaterrevolutionär Brecht und der Opernrebell Weill suchten nach einer neuartigen Verschmelzung von Text und Musik und brauchten dazu eine neue Art von Darsteller: den Schauspieler, der (auch) singen kann. Die Lenya konnte es. Wenn sie sang und spielte, erzählte sie zugleich eine Handlung, rührte an den Verstand ihrer Zuhörer nicht weniger als an deren   Herz.   „Gestischer Gesang“ stand auf dem Etikett, das man ihr später dafür anpappte. Dabei hatte Lotte Lenya keinerlei musikalische Ausbildung aufzuweisen, konnte ihr Leben lang nicht Noten lesen, und ihre Stimme war beim besten Willen keine große Stimme. Aber sie prägte sich ein. Sie wechselte in Sekunden von rotzfrech zu kindlich-zart, klang mal sehnsuchtsvoll verträumt, dann wieder gossenhaft vulgär. In ihr paarte sich Berliner Schnauze mit einem Wiener Akzent. „Süß, hoch, leicht, gefährlich, kühl, mit dem Licht der Mondsichel“, konnte einer wie der Philosoph Ernst Bloch dabei ins Schwärmen geraten. Die kleinen Ladenmädchen pfiffen begeistert die Melodien des „atonalen“ Weill, und auch der blinde Bettler in den Straßen Berlins wußte Bescheid: „Oh, Fräulein Lenja. Sie singen auf der Bühne so schön über uns arme Schlucker. Aber jejeben haben Sie mir nüscht.“

Etwas viel Besseres, viel Kostbareres als eine Gesangsausbildung brachte die Lenya mit: eine proletarische Herkunft. Ihre unnachahmliche Mischung aus Unschuld und Ungerührtheit, aus Gefühl und Gefühllosigkeit kam aus ihrem Elternhaus, das in Penzing, dem damaligen Elendsviertel von Wien stand. Dort kommt Karoline Wilhelmine Blamauer, wie sie richtig hieß, am 18. Oktober 1898 als „eins von vier hungrigen Kindern“ zur Welt. Die „erdgebundene“ Mutter verdingt sich als Wäscherin. Der versoffene Vater ist Fiakerkutscher, der seine Tochter verprügelt. In zärtlicheren Momenten weckt er die Vierjährige nachts aus dem Kohlenkasten, in dem sie schläft, und läßt sie für sich tanzen. Mit sechs Jahren tanzt sie bereits den Csardas in einem kleinen Zirkus und führt Kopfstände vor; zwei Jahre später balanciert sie mit einem Regenschirm über ein Drahtseil. Als der Weltkrieg ausbricht, schickt die Mutter sie nach Zürich. Lenya erhält Tanzunterricht am Stadttheater, gehört ab 1916 zum Ensemble. Vier Jahre später hat sie vom braven Zürich genug. Sie will dorthin, wo das Leben tobt: nach Berlin.

Im Berlin des Jahres 1920 aber war das Jungtalent vom Zürisee nur noch eine der unzähligen Glücksucherinnen, die die Reichshauptstadt überschwemmten. Bis Georg Kaiser, der Dramatiker-Fürst des Expressionismus, auf Lenya aufmerksam wird. Er und seine Frau laden sie im Sommer 1924 in ihr Landhaus nach Grünheide ein. Eines Tages soll sie einen Gast Kaisers vom Bahnhof auf der anderen Seite des Sees abholen, mit einem Boot. „Und da war er“, erinnerte sich die Lenya später. „Nur etwas größer als ich selbst, in einem blauen Anzug, sehr ordentlich und korrekt, mit einer sehr starken Brille und natürlich dem schwarzen Hut. Ich fragte: ,Sind Sie Herr Weill?’ und er sagte:,Ja.' Und dann lud ich ihn ein, in unser ‚Transportmittel’ zu steigen. Wir setzten uns also hin, und ich ruderte - nach althergebrachter deutscher Art: die Frau macht die ganze Arbeit. Von diesem Zeitpunkt an waren wir zusammen.“

Irgend etwas muß sie an dem schüchternen kleinen Mann mit der beginnenden Frühglatze und den bierflaschendicken Brillengläsern beeindruckt haben. Dabei sah er mit seiner pedantischen Art mehr nach einem Seminaristen aus als nach jemand, der das Musiktheater auf den Kopf stellen sollte. Weill hatte sich ebenfalls schnell in die knabenhafte Rothaarige verliebt, die mit ihren einssiebenundfünfzig noch zwei, drei Zentimeter kleiner war als er selbst. Ihn faszinierte ihre offene Art, aber im Jahrzehnt der ätherischen Nymphen war sie weiß Gott keine Schönheit. Ihr Kinn hätte vielleicht einem Boxer gut zu Gesicht gestanden, und wenn sie lachte, bleckte ein Pferdegebiß. Doch es hieß, sie sei sexuell unbefangen und experimentierfreudig gewesen. Ihr Vorzug war wohl auch, daß sie fest an das Talent des Komponisten glaubte wie niemand sonst. 1929 lieferte Weill in der „Münchner Illustrierten Presse“ ein Porträt über „Meine Frau“, das Liebeserklärung und Seufzer in einem war: „Sie ist eine miserable Hausfrau, aber eine sehr gute Schauspielerin. Sie kann keine Noten lesen, aber wenn sie singt, dann hören die Leute zu wie bei Caruso. Sie hat stets einige Freunde, was sie damit begründet, daß sie sich mit Frauen so schlecht verträgt. (Vielleicht verträgt sie sich aber auch mit Frauen darum so. schlecht, weil sie stets einige Freunde hat.) Sie hat mich geheiratet, weil sie gern das Gruseln lernen wollte, und sie behauptet, dieser Wunsch sei ihr in ausreichendem Maße in Erfüllung gegangen. Meine Frau heißt Lotte Lenja.“

Es lag wohl an den „einigen Freunden“, daß die Ehe der beiden Anfang der Dreißiger zu kriseln begann. Im September 1933 wurde die Scheidung rechtskräftig. Weill befand sich da bereits seit einem halben Jahr im Pariser Exil. Schon 1930 bei Brechts und Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ hatten SA-Störer im Parkett Randale geprobt, und den Nazis dienten die Kompositionen des „Kulturbolschewisten“ und Juden Weill später als „Paradebeispiele“ für „entartete Musik“. Doch es gehört ins Reich der Legenden, wenn die Lenya später immer behauptete, mit Weill im Wagen gesessen zu haben, als er sich im März 1933 vor der Gestapo nach Paris absetzte. Sie folgte ihm erst später ins Exil. Offenbar brauchte sie Weill genauso wie er sie, der einmal gesagt hatte: „Meine Melodien geraten stets durch Lenjas Stimme in mein inneres Ohr.“ Weill will auch nicht ohne seine Muse nach Amerika fahren, als ihn von dort ein Angebot Max Reinhardts, ihm die Musik für ein gigantisches Oratorium zu schreiben, erreicht. New York war dem Paar ja längst vertraut - die Straßenschluchten Manhattans aus Fritz Langs „Metropolis“-Film, der Broadway durch die Musicals und Harlem durch den bewunderten Jazz. Als Weill und Lenya am 10. September 1935 mit der „Ma je-stic“ in New York eintrafen, war es ihnen, „als kämen wir nach Hause“. Das Traum-Amerika hielt der Wirklichkeit nicht stand. Aber sie blieben.

An Neuanfänge war Lenya gewöhnt, nicht aber an Erfolglosigkeit. Eine Ahnung davon, was auf sie zukommen sollte, erhielt sie auf einer ihrer ersten Parties dort. George Gershwin, der Weill schätzte, schwärmte ihm von einer Plattenaufnahme der „Dreigroschenoper“ vor, an der ihn einzig die „quiekende“ Stimme der Sängerin störe - nicht ahnend, daß diese neben ihm stand und die Zähne zusammenbiß. Während Weill mit seinen Musicals am Broadway den Nerv des Publikums ebenso traf wie zuvor mit seinen Opern in der Berliner Friedrichstraße, saß Lenya - seit 1937 wieder Mrs. Weill und seit 1943 Amerikanerin -untätig herum. Der Versuch, für seine Frau ein Musical zu i schreiben, endete im größten ¦üNr9  Fiasko von Weills Karriere.

Die Seeräuber-Jenny („Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen, und ich mache das Bett für jeden“) war nun wirklich zur Hausfrau gebändigt. In einer Zeit, in der die anderen Exilanten Hunger litten, lebten die Weills angenehm im Wohlstand. Freunde und Mitarbeiter aus Berliner Zeiten waren vergessen. Auch zu einer Zusammenarbeit mit Brecht, der sich in Santa Monica mit Brotarbeiten durchschlug, kam es nicht mehr. Weill hatte, laut Lenya, „keine Lust, Karl Marx zu vertonen“. Ungerührt mokierte sie sich über die „Oldtimer, die immer nur darüber reden, wie toll es damals in Berlin war“. Die Mittvierzigerin saß nun fest in einem wunderschönen alten Farmhaus in New City, eine Autostunde vom Broadway entfernt. Und langweilte sich. Ironie des Schicksals, daß gerade sie die Symbolfigur der 20er Jahre blieb. Ihr alter Kampfgeist und ihre Zähigkeit kamen erst wieder zum Vorschein, als Weill 1950, gerade fünfzigjährig, starb. So schockierend das für Lenya gewesen sein muß - es riß sie doch aus ihrer unfreiwilligen Lethargie heraus. Gerade ihr „Oldtimer“-Erfolg aus Berliner Zeiten, die gute alte „Dreigroschenoper“, brachte sie ab 1953 ins öffentliche Bewußtsein zurück. Fast sieben Jahre lief die englische Neufassung in New York und brachte es auf 2706 Vorstellungen, über 600 davon mit Lenya in der Rolle der Jenny. Lenya arbeitete rastlos.

Ab 1961 drehte sie wieder Filme, meist an der Seite schöner Männer wie Warren Beatty, Omar Sharif oder Burt Reynolds. Ihre bizarrste Rolle hatte sie 1963 neben Sean Connery als eine lesbische russische Terroristin in dem James-Bond-Thriller „Liebesgrüße aus Moskau“. Als „Fräulein Schneider“ wurde sie in der Broadway-Inszenierung von „Cabaret“ hoch gelobt - aber auch viel gescholten, als sie sich 1965 bei den Ruhrfestspielen an Brechts „Mutter Courage“ versuchte. Sehr reich - sie hinterließ drei Millionen Dollar - und auf absurde Weise geizig, setzte die Lenya alles daran, insbesondere dem deutschen Weill, „ihrem“ Weill, seinen Platz in der Unsterblichkeit zu sichern. In Europa suchte sie nach verschollenen Frühwerken ihres Mannes und gründete eine Weill-Stiftung. Die beiden Kurz-Ehen, die sie nach dem Tod des kleinen jüdischen Kantorssohns aus Dessau noch einging, fand sie nicht weiter erwähnenswert.

In den späten 50ern war die Lenya nach Hamburg und Berlin gereist, um die „Dreigroschenoper“, „Happy End“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ auf Schallplatte einzuspielen.* Inzwischen hatte sich die Stimme der fast 60jährigen Kettenraucherin, die auch einen Scotch mit Soda nicht verachtete, gewaltig verändert, und Weills Noten mußten vielfach tiefer gesetzt werden. Neue Metaphern für ihr „Instrument“, wie sie ihre Stimme nannte, mußten her: Sie liege „eine Oktave tiefer als Kehlkopfentzündung“ schrieb einer, ein anderer meinte, die Lenya könne „damit Schleifpapier schleifen und die halbe Zeit versucht sie nicht einmal zu singen.“ Dennoch brachte sie damals das Kunststück fertig, mit der Aufnahme von einem Dutzend Songs „endgültige“ Interpretationen zu liefern und Maßstäbe zu setzen, die bis heute bestehen. Ob sie den Lenya-Stil nun zu imitieren oder sich von ihrem Vorbild zu lösen versuchen: spätere Weill-Sängerinnen von Milva über die Stratas bis zu einer Ute Lemper, so versiert sie auch singen mögen, kommen dagegen nicht an. Denn Lenyas Seele, die haben sie nicht.

in Viva Heft 3, 1989

4. Juli 1988

DIE 100 FILME

Folge 99 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

TOD EINER HEILIGEN
DIE PASSION DER JUNGFRAU VON ORLÉANS
Frankreich 1927 Regie: Carl Theodor Dreyer

4. Juni 1988

DIE 100 FILME

Folge 95 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

LANGE REISE ZUM ICH
SANSHO DAYU - EIN LEBEN OHNE FREIHEIT
Japan 1954 Regie: Kenji Mizoguchi

4. Mai 1988

DIE 100 FILME

Folge 89 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

BAJAZZO ALS HAMLET
SULLIVANS REISEN
USA 1941 Regie: Preston Sturges

4. März 1988

DIE 100 FILME

Folge 80 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

KAMPF UM DIE WAHRHEIT
ROM, OFFENE STADT
Italien 1945 Regie: Roberto Rossellini

4. Februar 1988

DIE 100 FILME

Folge 76 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

SPEKTAKEL UM LEBEN UND TOD
ANATOMIE EINES MORDES
USA 1959 Regie: Otto Preminger

4. Januar 1988

DIE 100 FILME

Folge 75 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

PERFEKTER PLAN
DAS LOCH
Frankreich/Italien 1960 Regie: Jacques Becker

4. Dezember 1987

DIE 100 FILME

Folge 68 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

GEWALT, WO GEWALT HERRSCHT
NICHT VERSÖHNT
Bundesrepublik 1965 Regie: Jean-Marie Straub

4. November 1987

DIE 100 FILME

Folge 62 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

CHAOS STATT ORDNUNG
DIE MARX BROTHERS IM KRIEG
USA 1933 Regie: Leo McCarey

4. Oktober 1987

DIE 100 FILME

Folge 59 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

SCHRECKLICH SCHÖNE WELT
DIE ROTE WÜSTE
Frankreich/Italien 1964 Regie: Michelangelo Antonioni

DIE 100 FILME

Folge 57 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

LÜGE UND WAHRHEIT
RASHOMON
Japan 1950 Regie: Akira Kurosawa

4. September 1987

DIE 100 FILME

Folge 53 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

SPUREN IM SAND
DER SCHATZ DER SIERRE MADRE
USA 1947 Regie: John Huston

4. August 1987

DIE 100 FILME

Folge 48 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

EINER FÜR ALLE
IST DAS LEBEN NICHT SCHÖN?
USA 1946 Regie: Frank Capra

10. Juli 1987

Privatmuseum Film

111 Meisterwerke des Kinos auf Video

46 „Belle de Jour“

4. Juli 1987

DIE 100 FILME

Folge 45 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

NACHTMAHRE UND TAGTRÄUME
WILDE ERDBEEREN
Schweden 1957 Regie: Ingmar Bergman

4. Juni 1987

DIE 100 FILME

Folge 43 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

ABGESANG EINER EPOCHE
DER LEOPARD
Italien 1962 Regie: Luchino Visconti

DIE 100 FILME

Folge 39 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

REVOLUTION IM KLASSENZIMMER
BETRAGEN UNGENÜGEND
Frankreich 1933 Regie: Jean Vigo

4. Mai 1987

DIE 100 FILME

Folge 35 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

SCHRECK IM AMÜSEMENT
DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE
Frankreich 1972 Regie: Luis Buñuel

4. April 1987

DIE 100 FILME

Folge 33 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

MANN, MÄDCHEN, MASCHINE
DIE KREUZFAHRT »DER NAVIGATOR«
USA 1924 Regie: Buster Keaton

5. März 1987

DIE 100 FILME - "Ekel" von Roman Polanski

Folge 30 der STERN-Serie über Meisterwerke des Kinos

SEX UND GEWALT
EKEL
(Repulsion) England, 1965 Regie: Roman Polanski Mit Catherine Deneuve, Ian Hendry, Yvonne Furneaux

Von Paul Werner. Der Autor ist Verfasser einer Polanski-Monographie und lebt als Journalist in Hamburg

Der kühlen Blonden mit dem Unschuldsblick erscheint die Welt voll von Sex. Wie gebannt lauscht sie dem Liebesgestöhn, das nächtens aus dem Zimmer ihrer Schwester dringt. Doch mehr noch widert es sie an. Und die Neugier, mit der sie am Morgen danach die zerknüllten Laken betrachtet, schlägt um in Brechreiz und Ekel.

Allgegenwärtig ist ihr die sexuelle Aggression der Männer. Die geilen Blicke auf der Straße, die anzüglichen Bemerkungen und bewundernden Pfiffe, ein Kniff in den Po oder der flüchtige Kuß eines Verehrers. Das übliche Spiel, mit dem Männer Frauen zu imponieren glauben.

Für die 18jährige Belgierin, die sich mit ihrer älteren Schwester in London ein Apartment teilt, wird daraus blutiger Ernst. Sex und Gewalt, für Carol ist das eins. Am Ende liegen die Leichen zweier Männer in ihrer Wohnung, und sie selbst findet man stocksteif unter dem Bett-friedlich entrückt in einen milden Wahn und die Träume ihrer Kindheit.

Mit kühler Objektivität, ohne Abscheu oder Mitleid, zeichnet Roman Polanski diese neurotische Entwicklung nach. Er brachte dabei das Kunststück fertig, daß Cineasten bei »Ekel« von einem meisterhaften Psychothriller schwärmten, Frauen sich verstanden fühlten und Seelendoktoren die Authentizität dieser klinischen Fallstudie rühmten. Sie mutmaßten gar, der 31 jährige polnische Jungfilmer und sein französischer Co-Autor hätten Psychologie studiert oder sich zumindest fachlich beraten lassen.

Nichts dergleichen. Beratung und Grundidee hatten sie sich bei einer sexuell verklemmten Freundin geholt, deren Probleme sie in einer 18tägigen Drehbuchsession konsequent weiterspannen. Zum Erfolg fehlte dann nur noch eine unbekannte Darstellerin mit Starappeal: Catherine Deneuve, eine Blondine von somnambulem Eros und feengleicher Schönheit. Ein Engel mit leicht angeschmutztem Heiligenschein.

Vor der sexgeprägten Chauvi-Welt verbarrikadiert sich Carol - für ein paar Tage alleingelassen - in ihrer Wohnung. Hier könnte sie glücklich sein und unbeschwert wie ein Kind. Gäbe es da nicht die Alpträume und Halluzinationen, die sie quälen: Die berstenden Wände, die Gestalt im Spiegel, der Fremde, der nachts in ihr Zimmer dringt und sie vergewaltigt.

Sanft und unentrinnbar - das ist das Raffinierte an dem Psychodrama - wird der Zuschauer in die verrückte Sichtweise der Figur, in die Landschaft ihrer Seele hineingezogen. Carols Realität - das, was sie glaubt zu sehen - verschmilzt mit der des Kinobesuchers. Durch ihre Augen sehen wir, wie das Badezimmer die Ausmaße eines Seziersaals annimmt. Oder wie der Flur zum Tunnel wird, durch dessen Mauern Arme und Hände nach ihr grapschen.

Das Apartment gibt eine grandiose Metapher ab für Carols Innenwelt. Je verwirrter ihr Seelenzustand wird, um so mehr verkommt die Wohnung in Chaos und Schmutz. Und ein Eindringen in diese Fluchtburg ist ein Eindringen in Carol selbst. Deshalb müssen zwei Männer sterben: der ungeduldige Verehrer, der die Tür einrennt, und der Hauswirt, der von Carol nicht nur die Miete kassieren will.

Nichts wirkt verstaubt an dem über 20 Jahre alten Film, der sich nie mühte, hip und trendy zu sein. Die Bilder und Töne, der sparsame Dialog sind frisch wie einst, die Symbole immer noch bezwingend. Mit der Präzision eines Zeitzünders lassen die visuellen und akustischen Schocks das Publikum zusammenzucken, und Chico Hamiltons Jazztöne schrillen nervend wie eh und je. »Ekel« war Polanskis erster Film im Westen und der Beginn einer Weltkarriere, die den Polen in die Höhen des Meisterwerks »Chinatown« und die Niederungen des mißglückten »Piraten«-Films führte. Doch so düster wie in »Ekel« ist es in Polanskis Werken später nie wieder zugegangen - nur in seinem Leben.


Roman Polanski, geboren 1933, machte sich mit düsteren Filmen wie »Ekel« (rechts ein Szenenphoto mit Catherine Deneuve) einen Namen in Europa, bevor er 1968 »Rosemaries Baby« in Hollywood drehte. Nach Erfolgsfilmen wie »Chinatown« mußte er Ende der siebziger Jahre aus persönlichen Gründen die USA verlassen

STERN-TV  15

23. Januar 1987

Privatmuseum Film

111 Meisterwerke des Kinos auf Video

22 „Vom Winde verweht“

2. Januar 1987

Privatmuseum Film

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19 „Der Fremde im Zug“

26. September 1986

Privatmuseum Film

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5 „Ekel“

Roman Polanski: „Ekel“ (Großbritannien 1965). Drehbuch: Roman Polanski, Gérard Brach. Kamera: Gilbert Taylor. Musik: Chico Hamilton. Darsteller: Catherine Deneuve, Yvonne Furneaux, lan Hendry, John Fraser, Patrick Uymark, Helen Fraser, James Villiers. Länge: 102 Minuten.

Als Mitte 1964 der polnische Regisseur Roman Polanski und sein französischer Co-Autor Gerard Brach mit dem Drehbuch zu „Ekel“ begannen, sprach alles dafür, daß das Ergebnis nur Dutzendware werden könnte. Sie hatten ein Angebot zweier Londoner Filmfinanziers akzeptiert, die mit Sexstreifen reüssiert hatten und nun in das Horrorgenre wechseln wollten. Ganze 17 Tage brauchten die Autoren für ihre ziemlich gewalttätige Geschichte über ein psychisch gestörtes Mädchen, das aus sexuellem Ekel zwei Männer ermordet.
Der knapp 31jährige Polanski, der zwei Jahre zuvor seine Heimat Polen verlassen hatte und recht ärmlich in Paris lebte, war froh, überhaupt irgendeinen Spielfilm im Westen machen zu können, seinen - nach „Das Messer im Wasser“ - erst zweiten. Obendrein hofften Brach und Polanski, durch diese Brotarbeit der Realisierung ihres seit zwei Jahren auf Eis liegenden Lieblingsprojekts „Wenn Katelbach kommt“ endlich einen Schritt näher zu kommen.
Gleichsam wider die Erwartungen der Beteiligten wurde „Ekel“ zum perfekten Meisterwerk, das dem jungen Filmemacher schmeichelhafte Vergleiche mit Hitchcock und Bunuel einbrachte. Polanski inszenierte ohne Rücksicht auf Budget und Drehpläne und war mehrmals nahe daran, die Regie über den Film zu verlieren. Die Produzenten - später durch den finanziellen Erfolg von „Ekel“ mehr als besänftigt - fühlten sich von Polanski düpiert und meinten überaus treffend, sie kämen sich vor wie jemand, der „einen Mini-Cooper bestellt und dann einen Rolls-Royce geliefert bekommt“.
Die von Catherine Deneuve mit faszinierender Kühle und Zurückhaltung dargestellte 18jährige Belgierin Carol lebt zusammen mit ihrer einige Jahre älteren Schwester in einer kleinen Wohnung im Londoner West End. Carol empfindet die Erwachsenenwelt, die ihr beinahe ausschließlich sexuell geprägt erscheint, als fremd und verwirrend. Sexualität übt eine große Faszination auf sie aus, mehr aber noch fühlt sie sich von ihr angeekelt und zurückgestoßen. Ihrer geschärften Wahrnehmung erscheinen alltägliche Begebenheiten, nahezu bedeutungslose Anzüglichkeiten und Anspielungen wie brutale Angriffe auf ihre Person.
Als ihre Schwester sie für ein paar Tage allein läßt, nimmt Carols innerer Konflikt neurotische Züge an, während sie äußerlich nur noch apathisch wirkt. Sie erleidet schreckliche Halluzinationen, sieht die Wände um sich herum bersten, glaubt sich nachts von einem Eindringling vergewaltigt. Bei ihrer Arbeit in einem Schönheitssalon verletzt sie absichtlich eine Kundin, so daß man sie nach Hause schickt. Nun kann sie sich völlig in der Wohnung verkriechen und sich immer tiefer in die Unbekümmertheit ihrer Kindheit zurückversetzen.
Doch ihr Rückzug in eine Traumwelt, frei von Sexualität und Aggression, wird brutal gestört: Im Abstand von ein paar Tagen dringen in die Wohnung zwei Männer ein, die Carol mit allen Mitteln abwehrt - sie tötet sie. Ihr erstes Opfer ist ein aufdringlicher Verehrer, der sich nach ihrem Verbleib erkundigen will und die Wohnungstür einrennt; das zweite der Hauswirt, der wegen der Miete kommt und die Gelegenheit zu einem plumpen Annäherungsversuch nutzt. Als nach knapp zwei Wochen Carols Schwester zurückkehrt, entdeckt sie die Leichen, findet dann auch Carol - unter einem Bett versteckt, stumm und starr, aber glücklich lächelnd wie ein Kind.
Auf geniale Weise nutzt Polanski die Wohnung als Hauptschauplatz und als überzeugende Metapher gleichermaßen. Im Lauf der Handlung verändert sich die Wohnung ebensosehr wie der Seelenzustand der Heldin. Je verwirrter Carol wird, um so mehr verkommt das Apartment in Schmutz und Chaos, verändert sogar seine Dimensionen. Um dem Zuschauer Carols verzerrte Wahrnehmung nachvollziehbar zu machen, ließ Polanski die Wohnung im Studio so aufbauen, daß er die Ausmaße und ihr Aussehen nach Belieben verändern konnte. In den Alpträumen Carols wird der Flur zum bedrohlich engen Tunnel, durch dessen Wände zahllose Arme nach ihr greifen, und das Badezimmer nimmt die Weite eines Operationssaals an. Mauern bekommen Risse oder werden weich wie Lehm.
Schließlich wird die Wohnung, zunächst Carols - brüchiges - Refugium vor der bedrohlichen Außenwelt, metaphorisch mit ihrem Körper gleichgesetzt: ein Eindringen in die Wohnung ist ein Eindringen in Carol selbst. Ihre heftige Reaktion wird dadurch verständlicher; Carols Morde sind Akte der Notwehr. Immer deutlicher  scheint Carol, mehr als Täterin, Opfer zu sein - Opfer männlicher Aggression. Mit seinen überlegt eingesetzten filmsprachlichen Mitteln und seinem makellosen
dramaturgischen Aufbau vermag „Ekel“, scheinbar mühelos, den Zuschauer in die verrückte Sichtweise der Heldin zu ziehen.
Nur scheinbar dazu im Widerspruch steht die neutrale Distanz, die der Filmemacher seiner Figur gegenüber beibehält. Polanski ist weder darauf aus, Carol als Ungeheuer zu diffamieren, noch Mitleid für sie zu erheischen. Er erklärt nichts, liefert keine Gründe für die neurotische Entwicklung, weist niemandem Schuld zu - auch nicht der von ihm mit entlarvender Präzision dargestellten Gesellschaft. Polanski beschreibt lediglich einen möglichen Einzelfall, zu dem es unter den gegebenen Verhältnissen kommen kann, aber nicht muß - Stellung dazu zu beziehen, überläßt er dem Zuschauer selbst.

Paul Werner

Paul Werner ist Autor mehrerer Bücher über Filmthemen (u.a. eine Polanski-Monographie, über den Film noir, zur Geschichte des Hollywood-Stars) und lebt als Filmpublizist in Hamburg.

in Rheinischer Merkur / Christ und Welt Nr. 40 - 26. September 1986

2. Januar 1986

Rebellin in Hollywood. 13 Porträts des Eigensinns (Mit Uta van Steen)


Vorbemerkung

Wie in keinem anderen Bereich kultureller Produktion sehen sich Frauen im kommerziellen Erzählkino großen Widerständen ausgesetzt. Dies gilt in besonders hohem Maße für dessen fortgeschrittenste (aber nicht fortschrittlichste) Erscheinungsform, den Hollywood-Film. Gerade in der amerikanischen Filmindustrie sind individualistisch-künstlerische Bedürfnisse mehr noch als sonst dem Verwertungsinteresse nachgeordnet. Filmemachen ist ein Geschäft wie (beinahe) jedes andere, und hier herrschen die Gesetze des Marktes.
Hinzu kommt für Frauen als zweite Schwierigkeit, daß der Hollywood-Film ein durch und durch männliches Kino ist. Mehr als jede andere vergleichbare Industrie sperrt sich der Film in den USA gegen den weiblichen Zugriff. Frauen sind einzig in bestimmten „Nischen" zugelassen, hauptsächlich als Darstellerinnen und Stars. Aber selbst dann noch sind den Freiräumen enge Grenzen gesetzt; das Patriarchat formt auch die Filminhalte, die Frauenrollen auf der Leinwand nach seinem (Zerr-)Bild. In der Darstellung der Frau regiert das Klischee. Zu anderen Sparten der Filmproduktion – Regie, Drehbuch, Produktion, Kamera – sind Frauen fast gar nicht zugelassen. Die wenigen Regisseurinnen, Drehbuchautorinnen oder Produzentinnen, die sich in Hollywood für länger behaupten konnten oder können, bezahlten dies häufig mit hoher Anpassungsbereitschaft und nicht selten mit völliger Verleugnung eigener Bedürfnisse.
Immer gab und gibt es auch heute eine Reihe von Frauen in Hollywood, die sich dem Anpassungsdruck verweigert haben, die eigensinnig den steinigen Weg der Selbstbestimmung nicht verlassen wollten, Dies sind die Frauen, die die Regeln des Patriarchats verletzt haben und die Gesetze des Marktes mißachtet: die „anderen" Frauen Hollywoods – und von ihnen handelt dieses Buch.
Die Porträts hierin, die Texte und Bilder, versammeln 13 Frauen aus der amerikanischen Filmgeschichte, acht Filmstars, drei Regisseurinnen und zwei Drehbuchautorinnen, die auf den ersten Blick nichts mit einander gemein zu haben scheinen. Mae West und Jane Fonda? Alla Nazimova und Shirley MacLaine? Claudia Weill und Lillian Hellman? Doch so unterschiedlich die einzelnen Frauen auch von Herkunft und Bewußtheitsstand sein mögen, so wenig sich ihre Lebenswege und -ziele auch gleichen mögen, sie verbindet, daß sie versuchten, sich im Hollywood-Film zu behaupten, ohne ihre Persönlichkeit zu verleugnen. Die nachgezeichneten Lebensläufe der Frauen aus allen Epochen des Dreivierteljahrhunderts Hollywood-Geschichte, die sich angepaßt zeigten oder radikal, erfolgreich waren oder tragisch endeten, ermöglichen in ihrer Gesamtheit eine Entdeckungsreise in eine weniger bekannte Seite der Filmgeschichte. Dabei geht es auch darum, ein wenig zurechtzurücken, daß der Anteil der Frauen an der Geschichte des Films, ihre Bedeutung für das Hollywood-Kino und darüber hinaus bis heute unterschätzt wird.
Vollständigkeit ist weder angestrebt noch letztlich erreichbar. Auch ließe sich über die Auswahl streiten. Im Zweifelsfalle gaben die persönlichen Vorlieben oder Abneigungen der Autoren den Ausschlag. Es kam uns darauf an, die Vielfalt des Protestes und dessen historische Entwicklung aufzuzeigen, und mehr als die Variation interessierte uns die jeweils authentischste Vertreterin einer bestimmten Haltung. Kein Lebensweg gleicht dem anderen, keine zwei Charaktere einander.

Für die Unterstützung bei der Klärung von Einzelfragen und die Bereitstellung von Fotos möchten die Autoren danken: Academy of Motion Picture Arts and Sciences (Beverly Hills), University of California Los Angeles, Beverly C. Thomas, Harry S. Gill und ganz besonders Claudia Weill.

aus: Paul Werner und Uta van Steen. Rebellin in Hollywood. 13 Porträts des Eigensinns. 4. Aufl. Frankfurt 1990: Zweitausendeins.

1. Januar 1986

Rebellin in Hollywood


Trouble in Paradise
oder
Hollywoods andere Frauen
Wie für einen Mann führt auch für eine Frau der einzige Weg zu sich selbst über schöpferische Arbeit. Es gibt keinen anderen Weg.
Betty Friedan
Genauso für eine Frau wie für einen Mann ist diese Arbeit (im Film) möglich, faszinierend und lohnend.. ., der Weg zu Ruhm und Glück.
Alice Guy

Hollywood, California. Ein enger Ort mit 200 000 Einwohnern, begrenzt von den Bergen im Norden und dem Beverly Boulevard im Süden. Seit 1910 Stadtteil von Los Angeles City. Eine runtergekommene Gegend, die vom Glanz vergangener Tage träumt. Die Straßen, zumindest die abseits der Boulevards und Avenues, sind angeschmuddelt. Gegen den Eindruck von Verfall vermögen auch die gelegentlichen Anstrengungen, das ramponierte Image der Stadt wieder aufzufrischen, kaum etwas auszurichten. Weder der Walk of Fame mit seinen Messingsternen und den Starnamen in den Gehwegplatten, der seit den Fünfzigern allmonatlich um ein paar Sternchen erweitert wird, noch das eigentliche Wahrzeichen der Stadt, das weltbekannte, 15 Meter hohe und zehnmal so lange H-O-L-L-Y-W-O-O-D auf dem Mount Lee. Erst im Sommer 1978 wurde die 1923 von Grundstücksmaklern errichtete, im Lauf der Zeit völlig verrottete Reklametafel, deren ursprünglicher Schriftzug „Hollywoodland“ lautete, mit großem Aufwand renoviert. Aber den Hauch von Wehmut und Nostalgie, der auf dem Ort lastet, können all diese kosmetischen Operationen nicht verscheuchen.
Sicher, es macht immer noch Spaß, den Sunset entlang zu fahren oder über den Hollywood Boulevard zu spazieren. Hier befinden sich die Arsenale, in denen ein anderes Hollywood begraben liegt: die Filmbuchläden und -antiquariate, die ihre großen Schätze an Büchern, Pressemappen, Scripts, Stills und Poster aus allen Epochen der Filmgeschichte feilbieten und zur Spurensuche einladen. Hier findet man auch die T-Shirt-Händler, die den Mythos auf ihre Weise kannibalisieren, indem sie die Signets der einst glorreichen Studios auf billige Hemden – Made in Taiwan – aufbügeln und für ein paar Dollars verkaufen. Einen Block weiter stößt man unweigerlich auf Mann’s Chinese Theater, das berühmte Kino im Pagodenstil, vor dem sich, als es noch Grauman’s Chinese hieß, die Kinostars mit ihren Fuß- und Handabdrücken im noch feuchten Zement verewigen konnten.
Mehr und mehr jedoch bestimmen die Spielhallen, die Pornoschuppen und die Burger Kings das Bild, die Junkies und die Obdachlosen der „skid row“, der Straße der ewigen Verlierer. Das alles beunruhigt, ist aber – bei Tage – ohne Gefahr; nur nachts sollte man sich nicht unbedingt dort sehen lassen. Hollywood, ein Dorado für Touristen und für naive Glücksjäger, wo die einen wie die anderen voller Erwartungen ankommen und von wo sie um ein paar Illusionen ärmer wieder verschwinden. Wie gut, daß es das andere Hollywood gibt.
Hollywood, Movieland. Ein mythischer Ort ohne feste Grenzen, mit einem dreiviertel Jahrhundert kinematographischer Tradition. Wenn auch die Wechselfälle seiner Geschichte, die zahlreichen Ups and Downs, eher einem Jo-Jo anstünden, wenn sein Zenit auch längst überschritten ist – Hollywood hat überlebt, existiert weiter. Hollywood als Metapher. Hier wurden und werden immer noch die weltweit gültigen ästhetischen und produktionstechnischen Standards des Erzählkinos festgelegt. Und selbst wenn in New York ein zweites Produktionszentrum heranwächst und die USA froh sein müssen, hinter Indien und Japan den dritten Platz in der Jahresproduktion an Spielfilmen halten zu können: in den Köpfen der Zuschauer und Macher ist Hollywood noch immer der Nabel der Filmwelt. Es beeinflußt die Sehgewohnheiten auch außerhalb Amerikas und selbst außerhalb westlicher Zivilisation. Man kann es lieben und bewundern, ablehnen oder hassen, nur ignorieren kann man es nicht. An diesem Kino kommt man nicht vorbei. Selbst diejenigen, die sich aufmachen, die herrschenden Sehgewohnheiten zu durchbrechen, reflektieren noch seinen Einfluß.
Hollywood ist die Drehscheibe der Stars und Regiegrößen, die hier heimisch sind, ohne hier zu wohnen. Seit Ende der zwanziger Jahre sind sie weggezogen, zuerst ins nahe Beverly Hills und Bei Air, dann weiter westlich nach Brentwood oder draußen nach Malibu; oder sie leben nun auf einer Ranch in Nevada oder in einem Luxusapartment am Central Park West auf der Insel Manhattan. Auch die Studiokomplexe, bis auf die von Paramount und ein paar kleinere, haben längst keinen Raum mehr in Hollywood, auch sie sind ausgewichen in umgebende Stadtteile und Vororte wie Burbank oder Culver City.
Ein kulturelles oder geistiges Zentrum läßt sich hier nicht ausmachen. Es ist das Mekka der Gesundheitsanbeter und Jugendlichkeitsfanatiker, der Schau-Platz der ewig Sonnengebräunten und Jogginggestählten. Der einzige Vorteil dieses Staates Kalifornien scheint tatsächlich – so packt es der „Stadtneurotiker“ von New York, Woody Allen, in eine spöttische Formel – darin zu liegen, daß man an der Verkehrsampel bei Rot rechts abbiegen darf. Hollywood ist intellektuelle Provinz, und wer mehr sucht als oberflächliche Parties und Barbecues, wer Gespräche jenseits von Mode, Gesundheit und Geldverdienen – und jenseits von Film – führen will, der dürfte sich an der Ostküste wohler fühlen. Kein Wunder also, daß die, die mit Hollywood und dem ganzen Sonnenstaat Kalifornien über Kreuz liegen, daß nahezu alle der in diesem Buch versammelten Frauen lieber in New York gelebt haben oder leben und immer wieder dorthin geflüchtet sind.
Warum gerade Hollywood? Warum wurde hier die Illusionsmaschine aufgeschlagen, wo doch die Wiege des amerikanischen Films an der Ostküste stand? Dies hatte, wie im übrigen nahezu alles in der Geschichte des US-Kinos, handfeste ökonomische Gründe – gepaart mit einer Portion Zufall. Die ersten der noch primitiven Filmstreifen wurden – bis in die zehner Jahre unseres Jahrhunderts hinein – überwiegend in New York und Umgebung heruntergekurbelt, dort, wo das Finanzzentrum der USA steht. Aber 1905 schon hatte sich das Jahrmarktsvergnügen zu einem einträglichen Geschäft entwickelt, und der einsetzende Konkurrenzkampf war heftiger geworden. Die Erfinder, Pioniere und Gerätehersteller schlössen sich daraufhin 1909 zur Motion Picture Patents Company (MPPC) zusammen. Der Trust reklamierte für sich sämtliche Patente und weigerte sich, an „Unabhängige“ Lizenzen zu erteilen. Seine Widersacher verfolgte er mit allen Mitteln: per gerichtliche Verbote, Klageandrohungen und Beschlagnahmungen und auch, wenn dies alles nicht fruchtete, mit angeheuerten Revolvermännern. Die schössen dann Löcher in die Kameras der illegal arbeitenden Filmcrews und trafen dabei auch schon mal einen Kameramann oder Darsteller.
Für die Independents empfahl es sich, aus der Gegend um New York zu verschwinden und nach Florida, Kuba oder Kalifornien auszuweichen. Besonders Südkalifornien bot Vorteile: Dort schien fast das ganze Jahr über die Sonne (auf die man beim Drehen angewiesen war), dort gab es abwechslungsreiche Landschaften. Grund und Boden waren nicht teuer, es war weit genug von New York und den MPPC-Monopolisten und nah genug an der Grenze nach Mexiko, wohin man sich schnell absetzen konnte, falls die Lage einmal allzu brenzlig wurde.
So stießen die Filmleute auch auf ein Nest namens Hollywood, wo günstig Land angeboten wurde. Es war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von dem Grundstücksspekulanten Harvey Henderson Wilcox gegründet worden. Seine Frau hatte auf einer Bahnreise den Namen „Hollywood“, was Stechpalmenwald bedeutet, aufgeschnappt, den sie als hübsch und wohlklingend empfand. Jedenfalls mehr als „Cahuenga Valley“, in dem das Ranchhaus der Wilcox stand. Sie taufte ihr Heim auf den neuen Namen, und ihr Mann benutzte ihn für sein riesiges Neusiedlungsgelände in der Nähe. Die Siedler ließen sich dort wie gewünscht nieder, und 1903 war Hollywood eine prosperierende Kleinstadt. Bereits vier Jahre später verschlug es die erste Filmcrew hierher, und im Jahre 1911 gründete die Nestor Company am Sunset Boulevard das erste Filmstudio. Im selben Jahr noch entstanden in dem 5000-Seelen-Ort 15 weitere Studios. Aus Hollywood, California, wurde Hollywood, die aufstrebende Filmkolonie.

*

Der Aufstieg Hollywoods zur Filmmetropole war jedoch nicht die einzige Auswirkung des „Patentkrieges“. Ein anderes, das Gesicht (nicht nur) der amerikanischen Filmindustrie prägendes Phänomen entsprang ebenfalls dem Konkurrenzkampf zwischen Monopolisten und Unabhängigen: der Star. Bis 1910 hatten die Studios des Trusts stets zu verhindern gewußt, daß die Darsteller und Darstellerinnen der Filmstreifen eine ähnliche Popularität erlangen könnten wie etwa die Theatergrößen am Broadway. Einzig der Name der Produktionsfirma sollte das Qualitäts- und Markenzeichen sein, das Zuschauer in die Kinos lockte. Man hielt die Filmakteure in der Anonymität. Alle neugierigen Anfragen von Kinogängern nach Informationen über die Darsteller wurden von den Studios negativ beschieden. Doch die Zuschauer spielten bei dieser Marktpolitik nicht mit. Sie kürten sich ihre Leinwandlieblinge selbst und gaben ihnen eigene Namen: Sie sprachen vom Biograph- oder Vitagraph-Girl, vom Fat Guy oder von Little Mary, dem „Verführer“ oder dem „Mann mit den traurigen Augen“.

28. August 1985

"Star und Zimmermann" in: Jahrbuch Film 85/86


Paul Werner
Star und Zimmermann

Das Ende des Autorenfilms - der Anfang eines neuen Starkinos?

Was wird werden, wenn Amerika die europäischen Ateliers, Verleihe, Kinos beherrscht? In dem Augenblick, wo die Amerikaner praktisch das Monopol besitzen (auf das »offizielle« werden sie pfeifen können), werden die Hollywood-Methoden überall durchgeführt werden, und zwar in einer Form, die noch einseitiger sein wird als die jetzige. Hollywood bedeutet bereits Konzentration in äußerster Konsequenz.Das Ergebnis ist Mangel an Ideenfrische, jene kindische Angst vor fortschrittlichem moralischen oder sozialen Denken.

Wenn dieses Lamento über die erdrückende Übermacht des amerikanischen Kinos auch schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist – die obigen Sätze stammen aus der Weltbühne vom August 1931 –, so ist sein Tenor (wieder einmal) von trauriger Aktualität. Während Hollywood-Filme in den deutschen Kinos Rekordeinnahmen verzeichnen, im letzten Jahr sogar ihr bestes Ergebnis erzielten, wird dem deutschen Film für 1985 nur noch ein Marktanteil zwischen drei und fünf Prozent prognostiziert. Lösungsvorschläge sind nicht in Sicht. Weder ist der Ruf nach einer Kontingentierung amerikanischer Filme realistisch, noch halten die kurzzeitig aufflackernde Hoffnung auf ein EG-Kino, das den Amerikanern Paroli bieten könnte, oder der Traum vom europäischen Großproduzenten und -Verleiher Gaumont näherer Betrachtung stand: auch die europäischen Nachbarn sind nicht besser dran. Italien, England, selbst das bislang erfolgsverwöhnte Frankreich, alle sehen ihre nationale Filmkunst in höchster Gefahr.
Die Filmkrisen sind in erster Linie Kinokrisen. Es wird zwar produziert, aber der Absatz stagniert, besonders in der Bundesrepublik. Die Kinobesucher sind kaum noch für Filme made in Germany zu begeistern; und schuld daran haben – wie immer – nur andere: das Fernsehen, das mit einem Überangebot von attraktiven Filmen lockt; Video, Kabel, Satelliten und weitere »neue Medien«; der amerikanische Kulturimperialismus; der schlechte Geschmack des Publikums; dazu Innenminister Zimmermann mit seiner gespenstischen Filmpolitik und dem Schlagwort vom »Publikumsfilm« (für die einen) oder die elitäre Kunstsinnigkeit des Autorenfilms (für die anderen).
Doch wenn die Not am größten, scheint die Rettung am nächsten. Mit einem Mal ist wieder von etwas die Rede, das jahrelang als verschollen galt: der deutsche Filmstar. Da erschien im Februar diesen Jahres in einer Taschenbuchreihe, die sich »Filmbibliothek« nennt, ein Band mit dem selbstbewußten Titel »Die neuen Stars des deutschen Films« – ganz ohne Fragezeichen dahinter. Lexikonartig werden darin Miniporträts bundesdeutscher (sowie österreichischer und schweizerischer) Schauspieler und Schauspielerinnen aufgefächert, 47 an der Zahl, und alle sollen Stars sein. Zweifel sind angebracht. Gleich der erste heißt Herbert Achternbusch, und dem ist ja schon manches nachgesagt worden, aber daß er ein Star sei? Ihm und uns zum Trost wird Achternbusch nur ein paar Zeilen weiter bestätigt, er habe »von seiner Amateurhaftigkeit jedoch nichts verloren«. Viele der anderen aufgeführten Größen des deutschen Films wie Harry Baer oder – um gleich ans Ende des Alphabets zu springen – Margarethe von Trotta und Rolf Zacher überzeugen unter der Rubrik »Star« auch nicht, ebensowenig wie das Hamilton-Mädchen Anja Schute.
Sei es Zufall oder Trend, im selben Februar beglückt »Europas größte Filmzeitschrift« Cinema uns unter der trotzig-optimistischen Parole »Es geht aufwärts« mit einer Coverstory über die deutschen Stars der achtziger Jahre. Auch hier die gleiche kuriose Mischung aus bewährten Leinwandmimen und talentierten Nachwuchskräften.
Man ist versucht, dies alles als künstliches Hochjubeln der einheimischen Kinoprominenz und -halbprominenz abzutun, als neuerlichen Beweis für den inflationären Gebrauch des Epithetons »Star«, dem alle verfallen sind: die Feuilletonisten, die das Wort »Hauptdarsteller« aus ihrem Vokabular gestrichen haben, ebenso wie die Yellow-Press-Schreiber, für die jeder ein Star ist, dessen Namen sie richtig buchstabieren können, und der Stoff für eine Personalie hergibt.
Doch mit Staunen registriert man: daß auch eine Talkshow-Runde des Ersten Deutschen Fernsehens sich anderthalb Stunden lang den Kopf über »Stars und Idole« zerbricht und meint, durch diese würde in den Achtzigern der Fortschrittsglaube früherer Zeiten abgelöst. Daß ein Fernsehbericht vom Festival in Cannes »Stars« zum Leitmotiv macht. Daß sich überhaupt die Zeichen mehren, es hier mit einem zukünftigen »In«-Thema zu tun zu haben: Stars scheinen in aller Munde zu sein und irgendwie auch die Personalisierung aller Hoffnung – oder Furcht – des deutschen Films.
Wenn der oberste deutsche Film- und Geschmackskritiker Friedrich Zimmermann davon schwärmt, »Filme zu schaffen, die weite Kreise der Bevölkerung interessieren, ansprechen, bewegen«, so klingt das angesichts der derzeitigen Kinokrise erstens gar nicht mal so falsch und zweitens nicht viel anders als das »Unsere Verbündeten können nur die Zuschauer sein« aus der Hamburger Erklärung der Filmemacher vom September 1979. Man muß schon genauer hinhören und hinsehen, um zu erfahren, was Zimmermann will: eine filmpolitische Halse zum Staats-und-Unterhaltungsfilm nämlich, der dem Publikum genau die Fluchtträume liefert, die es in den alles andere als rosigen Zeiten zu brauchen glaubt. Das ökonomische Rezept ist einfach: mehr Geld für weniger Filme und nur noch für die ohnehin erfolgreichen, während das Unkonventionelle leer ausgeht.
Mehr als gelegen kommt diese Filmpolitik einer Reihe von Nachwuchsregisseuren, die in ihren Startlöchern nur auf dieses Signal gewartet zu haben scheinen. Mit einem Auge spöttisch auf die Autorenfilm-Väter hinabblickend, schielen sie mit dem anderen auf amerikanische Vorbilder. Das Kino in ihrem Kopf: ein Action-, Genre-, Kommerz- und Eskapismuskino der weltweiten Konsumierbarkeit und Anerkennung, ein Kino mit Glamour, Glitter und Filmballprominenz, mit der sich auch Politiker so gerne umgeben. Und im Schnittpunkt der Interessen von Jungregisseur (und Altproduzent), Filmpolitiker und Zuschauer soll der freche, aber nicht zu freche Publikumsliebling stehen, der stellvertretend lebt und handelt und Sehnsüchte aufsaugt wie ein Schwamm: der (Beinahe-)Star. Er als einziger nimmt sich all die großen und kleinen Freiheiten, die sich die Zuschauer Mitte der Achtziger längst nicht mehr herauszunehmen wagen, er verkörpert und neutralisiert zugleich die heimlichen Wünsche, die dann außerhalb des Kinos keine Energie mehr freizusetzen vermögen. Die Helden dieses neuen Unterhaltungskinos sind genau das Palliativ, das die CDU-Regierung ihren zukunftslosen Jugendlichen verordnen möchte.

*

Keineswegs zwangsläufig aber müßten Stars, sosehr sie auch der Zimmermannschen Filmpolitik in den Kram passen würden, geradewegs zurück zum Kino der fünfziger Jahre führen, das zwar Stars aufzuweisen hatte, aber auch überwiegend furchtbare Filme. Andere Stars in anderen Filmen wären denkbar. Es wäre immerhin lohnend, die Möglichkeiten eines Starkinos auszuloten und zu sehen, ob darin nicht auch ein Weg liegt, den deutschen Film für die Zuschauer wieder attraktiver zu gestalten.
Im Kino finden, da sich neue Zuschauerschichten auf absehbare Zeit nicht erschließen lassen werden, Verteilungskämpfe statt – da liegt der Gedanke nicht allzufern, die Amerikaner mit ihren eigenen Mitteln abzuwehren. Und wer einräumt, daß der neue deutsche Film nicht nur – eher wenige – Meisterwerke geschaffen hat, sondern auch viel Mittelmaß, wer gelegentlich über der Thesenhaftigkeit interessante Geschichten vermißt und sich nach lebendigen Kinofiguren anstelle des Ästhetizismus gesehnt hat, der wird sich auch Filme gewünscht haben, in denen die Darsteller mehr im Mittelpunkt des Geschehens und höher in der Gunst der Regisseure stünden. Das Potential der deutschen Schauspieler ist von einem Niveau und von einer Fülle wie lange nicht. Durch ihre Eigenart in Gestik, Mimik und Sprachgestus könnten gerade sie wie sonst niemand dem deutschen Film ein unverwechselbares Gesicht geben. Europäische Coproduktionen oder krypto-amerikanische Mammutunternehmungen nach Art der Bavaria sind da kein Ersatz.
Der Personenkreis, der überhaupt noch ins Kino geht, ist zu 80 Prozent unter 30 Jahre alt. Und wenn man – anstatt ausschließlich Pressevorführungen – einmal eine ganz normale Samstagabendvorstellung in einem der Kino-Center besucht, sieht man, wie sehr die Teens in der Überzahl sind. Für diese Jugendlichen ist Kino weiß Gott mehr als »eine öffentliche Abspielstätte für Filme«, auf die es Christel Buschmann einmal zu reduzieren beliebte. Für dieses Publikum bedeutet Kino die Möglichkeit, dem elterlichen Fernsehabend zu entkommen (selbst wenn dort womöglich dieselben Filme zum Nulltarif konsumiert werden können) und innerhalb einer Gruppe Gleichaltriger und Gleichgesinnter an einem »Ereignis« teilzunehmen. Dazu sind sie bereit, Geld, Zeit und Energie zu mobilisieren – wer von denen über 30 ist das noch? Die Jugendlichen allein bestimmen den herrschenden Kinogeschmack, von dem auch das – einst andere – Publikum der Programmkinos nicht mehr allzuweit entfernt ist. Auch dort hat sich ein Unterhaltungsbedürfnis breitgemacht, in dem Gesellschaftskritisches oder Experimentelles kaum noch auf Gegenliebe stößt.
Die Entscheidung, sich einen bestimmten Film anzusehen, wird weitgehend intuitiv getroffen, basierend auf vorangehenden Erfahrungen und anhand von Orientierungsmerkmalen, in denen ein Versprechen liegt und die Garantie, daß dieses eingelöst wird. Orientierungsmerkmal ist in der Mehrzahl der erfolgreichen Filme der Star. So kümmert den Zuschauer, und wer wollte ihm das verdenken, kaum, wer INDIANA JONES gemacht hat, dagegen aber, daß Harrison Ford wieder die Titelrolle spielt. Nicht der Name des Regisseurs von BEVERLY HILLS COP bleibt im Gedächtnis haften, sondern der tolle Bursche namens Eddie Murphy, der die Leute auch in seinen nächsten Film holen wird. Wer sich für einen bestimmten Film entscheidet, der sucht im Neuen auch das Bewährte, schon Vertraute. Nur in Ausnahmefällen wird dies einzig und allein der Name des Regisseurs sein, so gut wie nie der eines kaum bekannten Autorenfilmers, von dem man vielleicht vor anderthalb oder zwei Jahren zuletzt gehört haben mag – eine lange Zeitspanne nicht nur für Jugendliche. Mit einiger Sicherheit könnten dagegen deutsche Darsteller und Darstellerinnen zu dem attraktiven Markenzeichen werden, zu dem die Autorenfilmer – bis auf das halbe Dutzend der großen Namen –, aber auch der neue deutsche Film als Ganzes sich nie haben entwickeln können. In diesem Kinoklima der Stars oder Beinahe-Stars hätte der deutsche Film eine Chance, wie er sie zur Zeit nicht hat.

*

Versucht man der Frage nachzugehen, ob sich bei uns Filmstars überhaupt durchsetzen können, sieht man sich zunächst damit konfrontiert, daß über Stars viel geredet und geschrieben wird, daß offenbar aber Verwirrung darüber herrscht, was ein Star sei. So bei einer Diskussion während der »Mainzer Tage der Fernsehkritik« des Jahres 1983, in der das Thema »Stars« gestreift wurde; Volker Schlöndorff vertrat dabei die Ansicht, »wenn das deutsche Publikum einen Star haben will, dann wird es sich ihn suchen«, und hielt es für einen »Irrglauben ..., daß industrielle Marktstrategien den Star aufbauen«. Wolf Donner, wie auch andere, setzte dem entgegen, »daß Stars sehr wohl gemacht werden können«. Diese widersprüchlichen Auffassungen sind bezeichnend für die hierzulande stets gescheute theoretische Auseinandersetzung mit dem Star-Begriff, woraus sich auch erklärt, warum auch heute noch gerne auf Enno Patalas' »Sozialgeschichte der Stars« von 1963 zurückgegriffen wird, die aber kaum mehr bietet als eine Typologie amerikanischer Stars.
Vor allem zwei Aspekte des Star-Begriffes sind in diesem Zusammenhang wichtig. Zunächst der einer spezifischen Ästhetik, der Art und Weise, wie ein Star innerhalb des filmischen Geschehens dargeboten wird. Ein Film, der seinen Hauptdarsteller als Star propagiert, wird eine bestimmte Geschichte erzählen und diese vor allem in einer bestimmten Weise erzählen. Sämtliche narrativen und filmischen Mittel wie Plotaufbau, Dramaturgie, Motivation der Figuren, Mise en Scène, Montage, Einsatz von Musik und Licht und weitere werden in hohem Maße darauf ausgerichtet sein, der Hauptfigur Charisma zu verleihen, sie als außergewöhnlich zu zeichnen und doch zugleich auch als Typus – und sie somit abzugrenzen von einer individualistischen Einzelperson auf der einen und vom Durchschnittsmenschen auf der anderen Seite.
Diese sorgfältig aufrechterhaltene Balance entspricht einer zweiten: die Figur muß einerseits dem Zuschauer genügend vertraut sein und dessen Erfahrungsbereich entstammen, andererseits muß sie sich von ihm erheblich unterscheiden, um ihm die Möglichkeit der Wunsch- und Angstprojektion zu bieten. Derartige Filme, mit der Ästhetik des »Starfilms«, sind auch in der heutigen bundesrepublikanischen Filmlandschaft machbar, und mit ihnen wäre eine der unabdingbaren Voraussetzungen für Stars gegeben. Darsteller könnten in und mit diesen Filmen Popularität gewinnen und zum Markenzeichen werden – und sind es im Ansatz bereits: Prochnow, Brandauer, George und Schygulla, Landgrebe, Sukowa sowie einige andere. Stars aber sind sie damit noch nicht.
Dazu gehört mehr. Ein zweiter Aspekt des Star-Begriffes wird an dieser Stelle wichtig; er ist außerfilmischer Natur. Um ein Star zu werden, muß ein Darsteller im Bewußtsein der Zuschauer ein spezifisches Image erzeugen, das als Verlängerung der im Film dargestellten Figur(en) erscheint. Der Darsteller wird vom Publikum mit seiner (Standard-)Rolle identifiziert und beides verschmilzt zu einer – fiktiven – Person, die innerhalb wie außerhalb des Kinos, gewissermaßen auch zwischen den einzelnen Filmen, Bestand hat. Nun erst ergibt sich – als ästhetische Rückkoppelung – in den Filmen das für den Zuschauer so faszinierende Zusammen- und Gegeneinanderspiel von Rolleninterpretation und Selbstdarstellung der Person des Stars. Gerade die Frage, auf welche Weise ein solches Image sich herauskristallisiert, provoziert die zitierten widersprüchlichen Ansichten über die »Machbarkeit« von Stars, die von der These der freien Entscheidung des Zuschauers bis zu der der Manipulation durch die Produzenten variieren. Schlöndorff und Donner haben somit gleichermaßen unrecht: weder können sich die Zuschauer ihre Stars frei aussuchen – es muß ein Angebot von populären Darstellern existieren, die in einer Reihe von Star-Rollen ein Image entwickeln konnten –, noch können die Produzenten den Zuschauern Stars aufzwingen; sie können lediglich ein Angebot machen, aus dem die Zuschauer sich ihre Stars aussuchen. Natürlich läuft dieser Prozeß nicht in einem völlig ausgewogenen Gleichgewicht von Produzenten und Konsumenten ab. Gerade auf der Produktionsseite wird erheblicher Aufwand getrieben, etwa Marktanalysen, Warenästhetik, Werbung, um das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verändern. Am prinzipiellen Ablauf ändert das jedoch nichts.
Wichtiger ist, daß es gewisser Grundvoraussetzungen bedarf, damit dieser Prozeß überhaupt in Gang kommt. »Wenn es eine Gerechtigkeit auf der Welt gäbe (und eine Filmindustrie in Deutschland), müßte Gudrun Landgrebe über Nacht ein Star geworden sein.« In diesem Satz von Hans-Christoph Blumenberg aus seiner Kritik zu der FLAMBIERTEN FRAU steht das Wichtigste und Richtige in der Klammer. Star wird man zwar nicht über Nacht (das sieht immer nur so aus), aber eine Filmindustrie braucht es dazu tatsächlich. Nur diese kann einem Darsteller, einer Darstellerin die Kontinuität gleicher oder ähnlicher Rollen garantieren – mit entsprechender Star-Ästhetik –, die ein Image erst erzeugen können. In der Bundesrepublik Mitte der achtziger Jahre ist diese Filmindustrie nirgendwo in Sicht, allenfalls wird hier eine Serie von Blödel- oder Schlagerfilmen einigermaßen industriell hergestellt. Auch die Zimmermannsche Filmpolitik wird so bald nicht in der Lage sein, in breiterem Maße eine industrielle Filmproduktion aus dem Boden zu stampfen. Selbst wenn Zimmermann die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen könnte, den notwendigen Absatzrahmen hätte er damit noch lange nicht geschaffen. Daran dürfte nicht zu zweifeln sein: die Hoffnung auf ein neues deutsches Starkino wird sich – bis auf ganz wenige Ausnahmen – nicht erfüllen. Kinolieblinge durchaus, Stars nicht.

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Den neuen deutschen Film, der – folgt man Peter Buchkas »Schwanengesang« im »Jahrbuch Film 1983/84« – längst tot ist, hat möglicherweise gerade das Unterschätzen der Darsteller als Attraktionswert für den Zuschauer das Leben gekostet. Selbstverständlich kann man ihm nicht vorwerfen, daß er keine Stars offeriert hat. Zum einen deckte sich seine Ästhetik nur an wenigen Punkten mit der des Starfilms, zum anderen war er einem weitgehend handwerklichen Arbeiten verpflichtet. Zu einer filmindustriellen Produktionsweise hat siech der Autorenfilm nie entwickeln wollen – und auch nicht können. Sein klares Defizit liegt aber darin, daß er das Potential der deutschen Schauspieler und Schauspielerinnen nur ungenügend genutzt hat. In seinen Filmen noch am ehesten, weitaus zu wenig aber nach außen hin, in dem, was in der Werbebranche PR und Marketing heißt. »Ein Film von ...« sollte das – eitle – Gütesiegel des neuen deutschen Films sein, das der Markt aber als solches nie akzeptiert hat. Vielmehr offenbarte sich darin der Personenkult der »Filmemacher« und »Autoren«, wie sie sich nannten, der nur bei denen der allerersten Riege, bei Wenders, Herzog, Fassbinder, Schlöndorff und vielleicht noch einigen wenigen anderen, völlig berechtigt war, nicht aber bei den vielen, die den Zuschauern nie zum Begriff wurden. Nur in den Filmkritiken durfte noch jeder drittklassige Regisseur mit einer Aufmerksamkeit rechnen, die den oft weit wichtigeren Schauspielern nur selten zuteil wurde.
Der neue deutsche Film, der sich ja zu einer gemeinsamen Ästhetik – auf die sich die Zuschauer hätten einstellen können – nie entwickelte und ein Kino der Individualisten (oder der Eigenbrötler) blieb, hätte eine gemeinsame Klammer in den Darstellern finden können. Die Regiekollegen und Vorbilder der Nouvelle Vague haben gezeigt, daß dies möglich ist. Die französischen Erneuerer des Kinos hatten weder Berührungsängste vor den bereits etablierten Stars, noch sind sie davor zurückgescheut, – gemeinsam – neue durchzusetzen. Der einzige, der das in Deutschland gewagt und erreicht hat, war Fassbinder. Wer sonst noch hat sich für die ungenutzten Fähigkeiten der Altstars aus den Fünfzigern interessiert? Wer sonst noch hat mit seinen Filmen eine beachtliche Zahl von Schauspielerinnen aufgebaut – wenn deren Prominenz zu seinen Lebzeiten auch hinter seiner eigenen stets zurückblieb? Wer sonst noch hatte auch die notwendige Produktivität, um dieses zu ermöglichen?
Über die Gründe dieses Versagens des neuen deutschen Films scheint mir ebenfalls die bereits zitierte Diskussion während der »Mainzer Tage der Fernsehkritik« Aufschluß zu geben. Hans-Christoph Blumenberg, damals im Begriff, vom Kritiker zum Regiedebütanten zu wechseln, drückte vorsichtig sein Bedauern aus, daß es keine Filmstars in der Bundesrepublik gibt – und erntete heftigen Widerstand. Schlöndorff schlug vor, »diesen Holzweg, ob der Star dem Kino die Rettung bringt, sofort (zu) verlassen«. Daß dies ausgerechnet Schlöndorff sagte, muß um so mehr überraschen, als gerade er, wie kaum ein anderer, in seinen Filmen auf bekannte Darstellernamen setzt. Bei EINE LIEBE VON SWANN zuletzt gleich auf Alain Delon, Fanny Ardant, Ornella Muti und Jeremy Irons, bei seiner geplanten Verfilmung von Arthur Millers »Der Tod des Handlungsreisenden« auf Dustin Hoffman. Vadim Glowna fühlte sich bei der Diskussion fatal an die fünfziger Jahre erinnert, wünschte sich andererseits aber »einen Filmträger, den die Leute gern sehen wollen, wer jetzt der Regisseur oder was das Thema genau ist«. Und selbst Alexander Kluge, der zunächst keinen Gegensatz von Star- und Autorenfilm zugeben wollte, höchstens »Ungleichzeitigkeiten«, blieb am Ende nichts anderes übrig als zu resignieren und resümieren: »Was der totgesagte Autorenfilm zu einer Frage wie der nach den Stars mitzuteilen hat: im Moment wenig.«
Wenig bis nichts hat er, der Autorenfilm, bedauerlicherweise aber auch zu der Funktion der Darsteller im Vermittlungsprozeß des deutschen Films an die Zuschauer zu sagen. Selbst die rote Bibel des Autorenfilms, die »Bestandsaufnahme: Utopie Film«, läßt sich breiter über die Funktion der Filmtitel und der Anzeigenschaltung aus, als ein Konzept in Richtung Darstellerprominenz zu entwickeln.

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Nicht nur bei den Autorenfilmern, auch bei einer großen Zahl von deutschen Filmschauspielern gibt es erhebliche Vorbehalte gegen eine Star-Rolle, obwohl man doch meinen sollte, daß gerade sie großes Interesse daran zeigen müßten. In einem Land wie der Bundesrepublik, wo stets ein scharfer Trennungsstrich gezogen wird zwischen »Ernst« und »Unterhaltung«, zwischen Kunst und Kommerz, darf man sich darüber eigentlich kaum wundern. Sich mit einer breiten Palette unterschiedlichster Rollen als Schauspieler auszuweisen, hat da beinahe zwangsläufig höheres Prestige, als größtmögliche Perfektion und Verehrung des Publikums zu erzielen in der Darstellung eines einzigen Typus, letztendlich sich selbst. Dies macht – stellvertretend für viele, darunter Günter Lamprecht und Bruno Ganz, Barbara Sukowa und Eva Mattes – vor allem ein Darsteller deutlich, der wie kein anderer dazu prädestiniert schien, zum Idol einer ganzen Generation von Kinogängern und möglicherweise zum Star zu werden: Marius Müller-Westernhagen mit seinem THEO GEGEN DEN REST DER WELT.
In dieser Außenseiter- und Verliererfigur kamen Darsteller, Rolle und Publikumserwartung zu einer perfekten Deckung, die Müller-Westernhagen wohl in Panik versetzte. Öffentlich beklagte er die Verwechslung seiner Person mit »Theo«, distanzierte sich von dieser Figur und gelobte, um keinen Preis der Welt eine Fortsetzung zu drehen. Von einem filmwirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, und auch von dem des Publikums, wäre dies eine Selbstverständlichkeit gewesen. Mittlerweile hat Müller-Westernhagen zwar mit dem THEO-Regisseur einen neuen Film gemacht, aber er beeilt sich zu beteuern, DER SCHNEEMANN sei keinesfalls eine Fortsetzung seines früheren Erfolgsfilms.
Natürlich ist Müller-Westernhagens Star-Phobie sein gutes Recht und berechtigt; er wird schon wissen, warum er sich auf diesen Star-Trip nicht einläßt, auf dem man hierzulande mit der Häme der Illustrierten-Journaille rechnen muß. Diese liebt es, kleinzumachen, wen sie zuvor mit aufgebaut hat. Romy Schneider, Nastassja Kinski, Mario Adorf und Karlheinz Böhm und andere, die es nicht zuletzt deswegen vorzogen, im Ausland zu arbeiten, kennen diesen zerstörerischen Mechanismus.
Auf der anderen Seite konnte etwa Gudrun Landgrebe – ebenso wie Müller-Westernhagen nach einem Erfolgsfilm als Star-Aspirant hoch gehandelt – die Starleiter nicht so zügig erklimmen, wie man das von ihr (und sie offenbar von sich selbst) nach der FLAMBIERTEN FRAU erwartet hatte. Ihren durch den ersten Film ausgewiesenen erotischen Appeal beutete ANNAS MUTTER eher aus, als ihn fortzusetzen, und Blumenbergs TAUSEND AUGEN brachte sie viel zu früh einer Offtype-Rolle, die also konträr zu ihrem noch unfertigen Image lief. Das mußte die Fans enttäuschen, und wie ihre neuesten Filmrollen zeigen, scheint sie sich wieder mehr in Richtung Schauspielerin anstatt Star zu entwickeln. Ob Hanna Schygulla, Jürgen Prochnow, Götz George und Klaus Maria Brandauer, die anscheinend gegen ein gewisses Startum ebenfalls nichts einzuwenden hätten, ausreichend Rollen finden werden, um ihren Typus durchzuhalten, bleibt abzuwarten.
Nach den mehr als zwei Jahrzehnten eines fruchtbaren und weltweit anerkannten Kinos der Regisseure könnte die zweite Hälfte der Achtziger dem deutschen Film, wenn auch kein Kino der Stars, so doch der Darsteller bringen. Gerade bei den Jugendlichen, dem Kinopublikum der Gegenwart wie der Zukunft, ist die Bereitschaft hoch, sich mit den Darstellern zu identifizieren, sie zu ihren Idolen zu machen – und ihnen in ihren nächsten Film zu folgen. Dies entspringt dem legitimen Bedürfnis, Rollenmodelle anhand von Vorbildern auszuprobieren, um so zur eigenen Rolle zu finden. Wenn es dem deutschen Film ernst damit ist, daß »nur die Zuschauer die Verbündeten sein können«, muß er diesem Bedürfnis nachkommen – ohne es auszubeuten mit Schlagerfilmen, Pennälersex-Klamotten oder SUPERNASEN-Serien. Sonst wird es tatsächlich ein paar deutsche Stars geben, aber die heißen dann mit Sicherheit Thomas Gottschalk, Mike Krüger und Didi Hallervorden.