19. Juli 1989

Jamie Lee Curtis


WENDE MIT WANDA

Erst Tochter von Tony und Königin des Horror-Films.
Dann Femme fatale und endlich Lorbeeren. 

JAMIE LEE CURTIS spielt alles - jetzt eine Polizistin

VON PAUL WERNER

Man mag sie sofort. Wahrscheinlich ist es diese Mischung aus Wildkatze und höherer Tochter, die sie so ungeheuer anziehend macht. Sie ist offen, schlagfertig, manchmal sogar tiefgründig. Was sie sagt, glaubt man ihr meist. Sie spricht mit dunkler Stimme, und sie geizt nicht mit den Worten „shit“ und „fuck“. Sie hat ein hübsches Gesicht, ohne wirklich schön zu sein. Ihr vielgerühmter Körper zeugt von Sport, Bodyshaping und vorsichtigem Umgang mit Nahrung. Man kann sich gut vorstellen, wie sie mit ihrem weißen Volvo zum Pazifikstrand fährt, um dort ein paar Meilen zu joggen, und dabei nicht einmal ins Schwitzen gerät. Falls es eine Personifikation des Californian Girl überhaupt gibt, dann ist es Jamie Lee Curtis.

Auch wenn sie, ihrem Aerobic-Film „Perfect“ zum Trotz, die Welt bislang mit einer Fitneßfibel verschont hat: Jamie Lee Curtis erinnert an Jane Fonda, vor zwanzig Jahren. Dieses Schwanken zwischen einer Ihr-könnt-mich-mal-Attitüde und der Sehnsucht nach Anerkennung - und dabei immer auf dem Sprung zu beweisen, daß die Kinder der Reichen und Berühmten es schwerer haben als andere. Bloß: Eine jugendliche Rebellin wie die Fonda hat Jamie Lee Curtis nie gespielt. „Ich bin ein Kind der Siebziger“, erklärt sie. „Haben Sie eine Ahnung, wie langweilig die Siebziger waren? Da gab's keinen Elvis, keine Beatles, kein Woodstock. Nichts, woran man sich halten konnte.“

Heute ist die 31jährige ein Filmstar auf der Suche nach Normalität. Ihr weißes, eher bescheidenes Haus im flacheren Teil von Beverly Hills sieht aus wie der wahr gewordene Traum vom gehobenen Familienheim: Doppelgarage, ordentlicher Rasen vor dem Eingang und eine geräumige Küche im Landhausstil. Jamie Lee Curtis wohnt darin mit Ehemann Christopher, zehn Jahre älter und als Schauspieler weit weniger bekannt als sie, und dem blonden Töchterchen Annie, das, knapp dreijährig, ihre Gedanken derzeit mehr beschäftigt als ihre Karriere.

Dabei kann sie auch anders. Da ist Jamie, die miniberockte skrupellose Juwelenräuberin aus „Ein Fisch namens Wanda“, die liebestolle Femme fatale, die alle Männer verführt und jedem Mann zu Füßen liegt, sofern er Fremdsprachenkenntnisse besitzt. Erst in dieser britischen schwarzen Komödie durfte Jamie Lee Curtis den Amerikanern zeigen, was sie alles hat. Eben mehr als Beine, Po und Busen - daß sie komisch sein kann und schlagfertig und daß sie schauspielerisches Talent besitzt.

Doch Jamie bleibt skeptisch, mißtraut der plötzlichen Anerkennung durch Publikum und Kritik. Mag sein, daß einen als Kind zweier Filmstars, aufgewachsen in Beverly Hills und mit dem Studiochef der Universal als Patenonkel, lange die Frage bewegt, ob man's auch alleine geschafft hätte. Und wahrscheinlich ist es wirklich nicht lustig, stets als „die Tochter von Tony Curtis und Janet Leigh“ vorgestellt zu werden oder dreispaltige Fotos vom Familienausflug in der „New York Times“ zu entdecken. „Als Kind versuchst du, eine Identität und ein Selbstwertgefühl zu entwickeln, und dieses ganze Hollywood-Zeugs verunsichert dich dabei nur!“ Wirklich schlimm wurde es, als das kalifornische Beach Girl 1975 in ein Internat an der Ostküste kam. „Damals wollte ich einfach nur dazugehören und nicht auffallen. Wenn die anderen Mädchen einen Pferdeschwanz trugen, kam ich am nächsten Tag auch mit einem. Die Musik, die sie hörten, wurde sofort meine. Ein Alptraum. Ich war nie wieder so deprimiert.“ Doch spätestens mit dem Motto, das sie bei ihrem Abgang von der Schule ins Jahrbuch drucken ließ, offenbarte sich eine andere Jamie: „Verrücktheit ist eine Tugend, die nur wenige erreichen“ stand dort zwischen hochgestochenen Sentenzen und gelehrigen Zitaten ihrer Mitschülerinnen, und: „Meine Brüste sind zwar nicht groß, aber sie gehören mir.“

Ihren inneren Widersprüchen und den Spätfolgen ihrer chaotischen Kindheit begegnet Jamie Lee Curtis mit ausgeprägtem Ordnungssinn. Das Haus ist aufgeräumt, das Leben wohlorganisiert, Verabredungen werden lange im voraus geplant. Muß sie verreisen, stehen die Koffer schon Tage vor der Abreise perfekt gepackt neben der Wohnungstür. Irgendwie scheint ihr ein wenig der kalifornische Optimismus zu fehlen. Sie traut ihrer selbstentworfenen Idylle nicht. „Es stimmt, daß ich die Dinge oft negativ sehe. Aber ich bin es auch, die die anderen immer wieder aufmuntert.“

Weil alles so wunderbar ordentlich bei ihr ist, läßt sich auch ihre Filmkarriere mühelos in drei Entwicklungsphasen unterteilen: Jamie Lee Curtis - der Schreihals, der Körper und die Schauspielerin. Phase eins beginnt 1978. Ohne eine Stunde Schauspielunterricht, aber mit viel Erster-Hand-Erfahrung aus dem Showbusiness, wird Jamie von einem dreißigjährigen Nachwuchsfilmer für einen billigen Horror-Streifen geholt. Für die Hauptrolle. Ergebnis: „Halloween“ entwickelt sich zum Megahit, läutet die Renaissance des Horror-Genres ein und macht den Regisseur John Carpenter reich und berühmt. Jamie Lee Curtis, deren fünfminütige Schreiarie in dem Film jeden Tarzan hätte neidisch werden lassen, erhält achttausend Dollar und den zweifelhaften Titel einer „Scream Queen“.

Nachhaltiger Effekt war, daß die 20jährige „Kreisch-Königin“ von nun an als Horror-Opfer Nummer eins abgestempelt schien. „Die Nacht des Schlächters“ oder „Monster im Nachtexpreß“ hießen die nächsten Werke. Was soll man auch erwarten, spottete eine Zeitschrift, wenn der Vater „Der Frauenmörder von Boston“ und die Mutter das spektakuläre Duschbad-Opfer in Hitchcocks „Psycho“ war? Mit ihrer Mutter Janet Leigh - die ihr inzwischen eine Freundin, kaum jedoch Beraterin in Karrierefragen ist - stand Jamie in „Nebel des Grauens“ dann sogar gemeinsam vor der Kamera.

Komplizierter gestaltete sich das Verhältnis zu ihrem Vater. Als Tony Curtis und Janet Leigh sich 1962 nach mehr als zehnjähriger Ehe scheiden ließen, war Jamie nicht einmal vier Jahre alt. Sie und ihre ältere Schwester Kelly kamen zur Mutter. Was der Vater machte, erfuhr Jamie Lee Curtis hauptsächlich aus den Klatschspalten der Zeitungen, zum Beispiel, daß er die 18jährige Christine Kaufmann heiratete. „Mein Vater war ein Fremder, dann sogar ein Feind“ - die liebevolle Bezeichnung „Daddy“ galt stets ihrem Stiefvater, einem Börsenmakler.

Erst Anfang der Achtziger fanden Jamie und Tony wieder zusammen, durch Alkohol und Kokain. „Damals habe ich mir mit meinem Vater des öfteren Drogen geteilt“, bekennt Jamie Lee Curtis freimütig. Der Unterschied war, daß Jamie, die Vernünftige, schnell davon wieder loskam und ihr unvernünftiger Vater bis heute nicht.

Die Filmbosse, die Jamie Lee Curtis damals immer neue Horror-Rollen antrugen, hatten nicht mit ihrem starken Willen gerechnet. Und nicht mit ihrer Angst, festgelegt zu werden. Lieber stellte sie in zwei reichlich spekulativen Fernsehfilmen das „Playboy“-Model Dorothy Stratten und eine Freizeitnutte dar. „Urplötzlich war ich ein Sex-Girl. Die Leute hatten mit einem Mal entdeckt, daß ich Brüste hatte.“ Ein kaugummikauendes Flittchen, schon mit Humor, folgte in John Landis' „Die Glücksritter“; dann, mit „Perfect“, war auch dieser Teil ihrer Karriere passé.

Genau wie ihre längere Beziehung zu dem britischen Pop-Sänger Adam Ant, die sie in die Klatschspalten gebracht hatte. Statt dessen begegnete sie Christopher Guest, mit dem sie inzwischen fast fünf Jahre verheiratet ist. Dabei ging es Jamie Lee Curtis nicht anders als gewöhnlichen Sterblichen: Sie entdeckte ihren Traummann in einem Magazin und verliebte sich in ihn, als er sie im Kino von der Leinwand herunter anlächelte. Im Unterschied zum normalen Fan jedoch war es für Jamie kein so großes Problem, an ihren Star heranzukommen. „In einem Anfall von Wagemut rief ich seinen Agenten an, sagte, daß ich Chris gerne kennenlernen würde, und hinterließ meine Telefonnummer.“ Es dauerte drei Monate, bis sie sich mit ihm traf. Die Rechnung vom ersten gemeinsamen Restaurantbesuch hängt heute in ihrer Küche an einem Ehrenplatz.

Für Jamie, zu der Zeit gerade mal wieder von irgendeinem amerikanischen Modeblatt zur perfekten Frau gekürt, war es ein harter Schlag, zu erfahren, daß ihr perfekter Körper keine Kinder bekommen kann. Sie und ihr Mann entschlossen sich zu einer offenen Adoption, bei der die Adoptiveltern und die Mutter des Kindes sich kennenlernen - in diesem Falle bereits vor Annies Geburt. „Um aus dem Schatten meiner Eltern herauszukommen“, sagte Jamie Lee Curtis einmal, „blieb mir nichts anderes übrig, als selbst ins Rampenlicht zu treten.“ Nun, da sie gezeigt hat, was in ihr steckt, und sie längst nicht mehr „die Tochter von...“ ist, scheint ihr das gar nicht mehr so viel zu bedeuten. Ein neuer Film, „Blue Steel“, in dem sie eine herbe New Yorker Polizistin spielt, ist abgedreht und kommt im Frühjahr 1990 bei uns in die Kinos. Doch das Familienleben spielt bei Jamie Lee Curtis derzeit die erste Rolle. Sie ist fest entschlossen, ihrer Tochter das Stück Normalität zu geben, das sie selbst in ihrer Kindheit vermißte. „Wenn ich zum Beispiel in Frankreich drehe, dann muß Annie ihr Leben ändern, muß mein Mann sein Leben ändern und mein Kindermädchen auch. Ich glaube nicht, daß das richtig ist.“

So hat sie sich nach fünfzehn Spielfilmrollen wieder für Fernseharbeit entschieden - für eine Komödienserie, in der sie eine Nachwuchsjournalistin bei einem Chicagoer Magazin darstellt. „Bis zu meinem Studio sind es nur anderthalb Blocks. Und an einer Halbstunden-Serie mitzuwirken ist das Bequemste, was man sich als Schauspieler aussuchen kann.“ Eine leidenschaftliche Liebe zu ihrem Beruf offenbart sich da nicht gerade. Jamie Lee Curtis weiß das. „Als Kind von Filmstars entwickelt man diese romantische Vorstellung von der Schauspielerei gar nicht erst“, stellt sie fest. Und betont, daß sie ihren Beruf nie mit Leidenschaft betrieben habe: „Aber mag sein, daß das noch kommt.“

in Viva Heft 7, 1989

17. März 1989

Lotte Lenya


FRAUEN, DIE GESCHICHTE MACHTEN

VON PAUL WERNER

Das Premierenpublikum saß wie versteinert, der junge Theaterdirektor sah seine Bühnenträume entschwinden, und die Hauptdarstellerin hatte bereits einen Vertrag für ein anderes Stück in der Tasche. Und nun tobte in der ersten Pause auch noch der sonst so sanfte Komponist durch den Garderobengang und stieß wüste Drohungen aus: „Dieser Saustall! Meine Frau spielt nicht weiter! Ich erlaube es nicht!“ Gemessen an den Problemen, die das Ensemble gerade halbwegs überstanden hatte, schien der Anlaß für den Wutausbruch banal: Der Drucker hatte auf dem Theaterzettel den Namen der Komponistengattin verschlampt, die eine der vier Huren darstellte.

Natürlich spielte sie dann doch weiter, sang im melancholischen Tango-Rhythmus von „dem Bordell, wo unser Haushalt war“. Und als am Ende der Vorhang über das „Stück mit Musik“ fiel, rasten die Zuschauer längst vor Begeisterung und schrien nach Zugaben. Was niemand für möglich gehalten hatte: Kurt Weills und Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“, die da am letzten Augustabend des Jahres 1928 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm über die Bühne ging, kam an. Das starke Stück über Bettler, Huren und Ganoven mit seinen provokanten Texten und der schmissigen Musik wurde zum größten Bühnenerfolg der Weimarer Republik. Mehr als fünfzig Theater griffen das Werk im ersten Jahr nach der Uraufführung auf und spielten es über viertausendmal. „Wer war die?“ hatte sich der Kritikerpapst Alfred Kerr während der Vorstellung über die anonyme Darstellerin gewundert. Doch überschwenglicher hätte sein Lob, das am nächsten Morgen im „Berliner Tageblatt“ zu lesen stand, gar nicht ausfallen können: „Die war sehr, aber sehr gut. Ja, die war im Artikulieren besonders gut.“ Schnell lernte Kerr, wie fast jeder in Berlin, daß die Namenlose Lotte Lenja hieß.

Wer war die eigentlich? fragte man sich noch ein halbes Jahrhundert später, als die Lenya (wie sie sich nun schrieb) 1981 in New York im Alter von 83 Jahren starb. Nun: Die kleine Frau mit dem faszinierend unschönen Gesicht war eine Kultfigur aus einer längst verwehten Epoche. Eine Überlebenskünstlerin, die im krisengepackten Berlin der Weimarer Republik ebenso zu Hause war wie am Broadway in den Sechzigern. Eine Sängerin, die mit ihren Weill-Liedern eine ganze Ära wieder aufleben lassen konnte. Eine Schauspielerin, die Brechts „Mutter Courage“ auf der Bühne verkörperte und im Actionkino James Bonds russische Todfeindin. Und schon zu Lebzeiten galt die Lenya als Legende, steckte voller Geschichten aus alten Zeiten, immer sehr anekdotisch und nur selten politisch reflektierend. Eben eine von denen, die mittendrin, aber nie darüber gestanden hatten. Sie konnte hinreißend über ihre Begegnung mit dem zornigen jungen Kommunisten Brecht berichten („er war sehr dünn, wie ein Hering“), über den Maler George Grosz, der betrunken auf dem Kamm blies, und über die „viel zu schönen“ Beine der Dietrich. Sie erinnerte sich genau, wie es damals war, als sie im berühmten Theaterrestaurant „Schlichter“ den Kulturklatsch durchhechelten. In den ekstatisch-wilden Zwanzigern, als man die Inflation von 1923 vergessen hatte und die heraufdämmernde Weltwirtschaftskrise von 1929 nicht wahrhaben wollte. Als man dachte, daß es unablässig aufwärts gehe.

Aufwärts ging es nach dem „Dreigroschen“-Erfolg in der Tat für das Ehepaar Weill-Lenya. Wie ein Kind freute sich Kurt über sein erstes Auto, und „Lenya“ - die nicht mal enge Freunde Lotte genannt hätten - war mit dreißig über Nacht eine gefragte Darstellerin. „Die wird bald in der szenischen Front sein“, prophezeite Kerr, und Lotte Lenya spielt sich 1929 einmal quer durchs gängige Repertoire. Zusammen mit Peter Lorre klettert sie bei der Uraufführung von Marieluise Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“ (Regie: Bert Brecht) zum Liebesakt in einen Sarg - und provoziert damit selbst im libertinen Berlin einen Skandal. Der „bürgerliche“ Max Reinhardt, für den die antibourgeoise Brecht-Schauspielerin selbstverständlich nicht spielt, schickt seine Schüler geschlossen in Lenyas Vorstellungen, damit sie ihre „natürliche Kunst“ studieren.

Doch Theater spielen konnten andere auch. Einzigartig war Lenya als Interpretin der Lieder ihres Mannes, zumal, wenn Brecht dazu die Texte lieferte. Das Dreigestirn Weill-Brecht-Lenya hatte sich schon im Juli 1927 beim Baden-Badener Kammermusikfest mit dem Songspiel „Mahagonny“ bestens eingeführt. Damals brachte Lenya zum erstenmal den „Alabama-Song“, den Brecht in bescheidenem Englisch getextet hatte („Oh, show us the way to the next whisky-bar“) und der ihr Leben lang eine ihrer Glanznummern blieb. Auch ohne daß Lenya, wie Brecht wollte, nackt auftrat, war das Werk mit dem Boxring auf der Bühne eine Sensation. Die eine Hälfte des Publikums pfiff wütend auf ihren Hausschlüsseln, die andere applaudierte frenetisch. Zur perfekten Einheit kamen Darstellerin und Rolle in der Ballade der „Seeräuber-Jenny“,  die  in  der „Dreigroschenoper“ eigentlich einer anderen Figur, der Polly gehört. Mit der ihr eigenen Zähigkeit hatte sich die Lenya dieses „Lied eines kleinen Abwaschmädchens“, das von dem „Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen“ träumt, seit der Verfilmung der Oper durch G. W. Pabst für alle Zeiten unter den Nagel gerissen. Ihr lakonisch-mitleidloses „Hoppla“, wenn die Köpfe ihrer Unterdrücker rollen, war lautmalerischer Akzent und cooler Zynismus in einem. Den Zuhörern jagte es eisige Schauer über den Rücken.

Der Theaterrevolutionär Brecht und der Opernrebell Weill suchten nach einer neuartigen Verschmelzung von Text und Musik und brauchten dazu eine neue Art von Darsteller: den Schauspieler, der (auch) singen kann. Die Lenya konnte es. Wenn sie sang und spielte, erzählte sie zugleich eine Handlung, rührte an den Verstand ihrer Zuhörer nicht weniger als an deren   Herz.   „Gestischer Gesang“ stand auf dem Etikett, das man ihr später dafür anpappte. Dabei hatte Lotte Lenya keinerlei musikalische Ausbildung aufzuweisen, konnte ihr Leben lang nicht Noten lesen, und ihre Stimme war beim besten Willen keine große Stimme. Aber sie prägte sich ein. Sie wechselte in Sekunden von rotzfrech zu kindlich-zart, klang mal sehnsuchtsvoll verträumt, dann wieder gossenhaft vulgär. In ihr paarte sich Berliner Schnauze mit einem Wiener Akzent. „Süß, hoch, leicht, gefährlich, kühl, mit dem Licht der Mondsichel“, konnte einer wie der Philosoph Ernst Bloch dabei ins Schwärmen geraten. Die kleinen Ladenmädchen pfiffen begeistert die Melodien des „atonalen“ Weill, und auch der blinde Bettler in den Straßen Berlins wußte Bescheid: „Oh, Fräulein Lenja. Sie singen auf der Bühne so schön über uns arme Schlucker. Aber jejeben haben Sie mir nüscht.“

Etwas viel Besseres, viel Kostbareres als eine Gesangsausbildung brachte die Lenya mit: eine proletarische Herkunft. Ihre unnachahmliche Mischung aus Unschuld und Ungerührtheit, aus Gefühl und Gefühllosigkeit kam aus ihrem Elternhaus, das in Penzing, dem damaligen Elendsviertel von Wien stand. Dort kommt Karoline Wilhelmine Blamauer, wie sie richtig hieß, am 18. Oktober 1898 als „eins von vier hungrigen Kindern“ zur Welt. Die „erdgebundene“ Mutter verdingt sich als Wäscherin. Der versoffene Vater ist Fiakerkutscher, der seine Tochter verprügelt. In zärtlicheren Momenten weckt er die Vierjährige nachts aus dem Kohlenkasten, in dem sie schläft, und läßt sie für sich tanzen. Mit sechs Jahren tanzt sie bereits den Csardas in einem kleinen Zirkus und führt Kopfstände vor; zwei Jahre später balanciert sie mit einem Regenschirm über ein Drahtseil. Als der Weltkrieg ausbricht, schickt die Mutter sie nach Zürich. Lenya erhält Tanzunterricht am Stadttheater, gehört ab 1916 zum Ensemble. Vier Jahre später hat sie vom braven Zürich genug. Sie will dorthin, wo das Leben tobt: nach Berlin.

Im Berlin des Jahres 1920 aber war das Jungtalent vom Zürisee nur noch eine der unzähligen Glücksucherinnen, die die Reichshauptstadt überschwemmten. Bis Georg Kaiser, der Dramatiker-Fürst des Expressionismus, auf Lenya aufmerksam wird. Er und seine Frau laden sie im Sommer 1924 in ihr Landhaus nach Grünheide ein. Eines Tages soll sie einen Gast Kaisers vom Bahnhof auf der anderen Seite des Sees abholen, mit einem Boot. „Und da war er“, erinnerte sich die Lenya später. „Nur etwas größer als ich selbst, in einem blauen Anzug, sehr ordentlich und korrekt, mit einer sehr starken Brille und natürlich dem schwarzen Hut. Ich fragte: ,Sind Sie Herr Weill?’ und er sagte:,Ja.' Und dann lud ich ihn ein, in unser ‚Transportmittel’ zu steigen. Wir setzten uns also hin, und ich ruderte - nach althergebrachter deutscher Art: die Frau macht die ganze Arbeit. Von diesem Zeitpunkt an waren wir zusammen.“

Irgend etwas muß sie an dem schüchternen kleinen Mann mit der beginnenden Frühglatze und den bierflaschendicken Brillengläsern beeindruckt haben. Dabei sah er mit seiner pedantischen Art mehr nach einem Seminaristen aus als nach jemand, der das Musiktheater auf den Kopf stellen sollte. Weill hatte sich ebenfalls schnell in die knabenhafte Rothaarige verliebt, die mit ihren einssiebenundfünfzig noch zwei, drei Zentimeter kleiner war als er selbst. Ihn faszinierte ihre offene Art, aber im Jahrzehnt der ätherischen Nymphen war sie weiß Gott keine Schönheit. Ihr Kinn hätte vielleicht einem Boxer gut zu Gesicht gestanden, und wenn sie lachte, bleckte ein Pferdegebiß. Doch es hieß, sie sei sexuell unbefangen und experimentierfreudig gewesen. Ihr Vorzug war wohl auch, daß sie fest an das Talent des Komponisten glaubte wie niemand sonst. 1929 lieferte Weill in der „Münchner Illustrierten Presse“ ein Porträt über „Meine Frau“, das Liebeserklärung und Seufzer in einem war: „Sie ist eine miserable Hausfrau, aber eine sehr gute Schauspielerin. Sie kann keine Noten lesen, aber wenn sie singt, dann hören die Leute zu wie bei Caruso. Sie hat stets einige Freunde, was sie damit begründet, daß sie sich mit Frauen so schlecht verträgt. (Vielleicht verträgt sie sich aber auch mit Frauen darum so. schlecht, weil sie stets einige Freunde hat.) Sie hat mich geheiratet, weil sie gern das Gruseln lernen wollte, und sie behauptet, dieser Wunsch sei ihr in ausreichendem Maße in Erfüllung gegangen. Meine Frau heißt Lotte Lenja.“

Es lag wohl an den „einigen Freunden“, daß die Ehe der beiden Anfang der Dreißiger zu kriseln begann. Im September 1933 wurde die Scheidung rechtskräftig. Weill befand sich da bereits seit einem halben Jahr im Pariser Exil. Schon 1930 bei Brechts und Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ hatten SA-Störer im Parkett Randale geprobt, und den Nazis dienten die Kompositionen des „Kulturbolschewisten“ und Juden Weill später als „Paradebeispiele“ für „entartete Musik“. Doch es gehört ins Reich der Legenden, wenn die Lenya später immer behauptete, mit Weill im Wagen gesessen zu haben, als er sich im März 1933 vor der Gestapo nach Paris absetzte. Sie folgte ihm erst später ins Exil. Offenbar brauchte sie Weill genauso wie er sie, der einmal gesagt hatte: „Meine Melodien geraten stets durch Lenjas Stimme in mein inneres Ohr.“ Weill will auch nicht ohne seine Muse nach Amerika fahren, als ihn von dort ein Angebot Max Reinhardts, ihm die Musik für ein gigantisches Oratorium zu schreiben, erreicht. New York war dem Paar ja längst vertraut - die Straßenschluchten Manhattans aus Fritz Langs „Metropolis“-Film, der Broadway durch die Musicals und Harlem durch den bewunderten Jazz. Als Weill und Lenya am 10. September 1935 mit der „Ma je-stic“ in New York eintrafen, war es ihnen, „als kämen wir nach Hause“. Das Traum-Amerika hielt der Wirklichkeit nicht stand. Aber sie blieben.

An Neuanfänge war Lenya gewöhnt, nicht aber an Erfolglosigkeit. Eine Ahnung davon, was auf sie zukommen sollte, erhielt sie auf einer ihrer ersten Parties dort. George Gershwin, der Weill schätzte, schwärmte ihm von einer Plattenaufnahme der „Dreigroschenoper“ vor, an der ihn einzig die „quiekende“ Stimme der Sängerin störe - nicht ahnend, daß diese neben ihm stand und die Zähne zusammenbiß. Während Weill mit seinen Musicals am Broadway den Nerv des Publikums ebenso traf wie zuvor mit seinen Opern in der Berliner Friedrichstraße, saß Lenya - seit 1937 wieder Mrs. Weill und seit 1943 Amerikanerin -untätig herum. Der Versuch, für seine Frau ein Musical zu i schreiben, endete im größten ¦üNr9  Fiasko von Weills Karriere.

Die Seeräuber-Jenny („Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen, und ich mache das Bett für jeden“) war nun wirklich zur Hausfrau gebändigt. In einer Zeit, in der die anderen Exilanten Hunger litten, lebten die Weills angenehm im Wohlstand. Freunde und Mitarbeiter aus Berliner Zeiten waren vergessen. Auch zu einer Zusammenarbeit mit Brecht, der sich in Santa Monica mit Brotarbeiten durchschlug, kam es nicht mehr. Weill hatte, laut Lenya, „keine Lust, Karl Marx zu vertonen“. Ungerührt mokierte sie sich über die „Oldtimer, die immer nur darüber reden, wie toll es damals in Berlin war“. Die Mittvierzigerin saß nun fest in einem wunderschönen alten Farmhaus in New City, eine Autostunde vom Broadway entfernt. Und langweilte sich. Ironie des Schicksals, daß gerade sie die Symbolfigur der 20er Jahre blieb. Ihr alter Kampfgeist und ihre Zähigkeit kamen erst wieder zum Vorschein, als Weill 1950, gerade fünfzigjährig, starb. So schockierend das für Lenya gewesen sein muß - es riß sie doch aus ihrer unfreiwilligen Lethargie heraus. Gerade ihr „Oldtimer“-Erfolg aus Berliner Zeiten, die gute alte „Dreigroschenoper“, brachte sie ab 1953 ins öffentliche Bewußtsein zurück. Fast sieben Jahre lief die englische Neufassung in New York und brachte es auf 2706 Vorstellungen, über 600 davon mit Lenya in der Rolle der Jenny. Lenya arbeitete rastlos.

Ab 1961 drehte sie wieder Filme, meist an der Seite schöner Männer wie Warren Beatty, Omar Sharif oder Burt Reynolds. Ihre bizarrste Rolle hatte sie 1963 neben Sean Connery als eine lesbische russische Terroristin in dem James-Bond-Thriller „Liebesgrüße aus Moskau“. Als „Fräulein Schneider“ wurde sie in der Broadway-Inszenierung von „Cabaret“ hoch gelobt - aber auch viel gescholten, als sie sich 1965 bei den Ruhrfestspielen an Brechts „Mutter Courage“ versuchte. Sehr reich - sie hinterließ drei Millionen Dollar - und auf absurde Weise geizig, setzte die Lenya alles daran, insbesondere dem deutschen Weill, „ihrem“ Weill, seinen Platz in der Unsterblichkeit zu sichern. In Europa suchte sie nach verschollenen Frühwerken ihres Mannes und gründete eine Weill-Stiftung. Die beiden Kurz-Ehen, die sie nach dem Tod des kleinen jüdischen Kantorssohns aus Dessau noch einging, fand sie nicht weiter erwähnenswert.

In den späten 50ern war die Lenya nach Hamburg und Berlin gereist, um die „Dreigroschenoper“, „Happy End“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ auf Schallplatte einzuspielen.* Inzwischen hatte sich die Stimme der fast 60jährigen Kettenraucherin, die auch einen Scotch mit Soda nicht verachtete, gewaltig verändert, und Weills Noten mußten vielfach tiefer gesetzt werden. Neue Metaphern für ihr „Instrument“, wie sie ihre Stimme nannte, mußten her: Sie liege „eine Oktave tiefer als Kehlkopfentzündung“ schrieb einer, ein anderer meinte, die Lenya könne „damit Schleifpapier schleifen und die halbe Zeit versucht sie nicht einmal zu singen.“ Dennoch brachte sie damals das Kunststück fertig, mit der Aufnahme von einem Dutzend Songs „endgültige“ Interpretationen zu liefern und Maßstäbe zu setzen, die bis heute bestehen. Ob sie den Lenya-Stil nun zu imitieren oder sich von ihrem Vorbild zu lösen versuchen: spätere Weill-Sängerinnen von Milva über die Stratas bis zu einer Ute Lemper, so versiert sie auch singen mögen, kommen dagegen nicht an. Denn Lenyas Seele, die haben sie nicht.

in Viva Heft 3, 1989